Tausend strahlende Sonnen
aus schepperndem Megafon eine offizielle Bekanntmachung. Dieselbe Mitteilung war auch über Lautsprecher auf den Moscheen und im Radio zu hören, dessen Sender nunmehr »Stimme der Scharia« hieß. Gleichzeitig wurde diese Mitteilung auf Flugblättern in den Straßen verteilt. Mariam fand eines im Hof.
Unser watan trägt ab sofort den Namen Islamisches Emirat Afghanistan. Dies sind die Gesetze, die wir durchsetzen werden und denen zu gehorchen ist:
Alle Bürger müssen fünfmal am Tag beten. Wer während der Gebetszeit etwas anderes tut und dabei überführt wird, wird mit Prügel bestraft.
Für alle Männer gilt Bartpflicht. Das korrekte Längenmaß des Bartes entspricht der Breite einer geballten Faust unter dem Kinn. Wer diese Vorschrift nicht beachtet, wird mit Prügel bestraft.
Alle Jungen tragen Turban. Schüler der ersten bis zur sechsten Klasse tragen schwarze, ältere Schüler weiße Turbane. Alle Jungen tragen islamische Kleidung. Hemden sind bis zum Kragen zuzuknöpfen.
Singen ist verboten.
Tanzen ist verboten.
Kartenspiele, Schach, Glücksspiele und Drachen-steigen-Lassen sind verboten.
Bücher zu schreiben, Filme anzusehen und Bilder zu malen ist verboten.
Das Halten von Papageien wird mit Prügelstrafe geahndet; die Vögel werden getötet.
Überführten Dieben wird die Hand am Handgelenk abgetrennt. Wiederholungstätern wird ein Fuß abgeschnitten.
Nicht-Muslime haben ihren Gottesdienst an Orten zu feiern, wo sie nicht von Muslimen gesehen werden können. Wer sich nicht daran hält, den erwarten Prügelstrafe und Inhaftierung. Der Versuch, einen Muslim zu einem anderen Glauben zu bekehren, wird mit dem Tod geahndet.
Frauen – aufgepasst:
Ihr werdet Euch zu allen Zeiten ausschließlich im Haus aufhalten. Es gehört sich nicht für eine Frau, ziellos auf Straßen herumzuziehen. Ausgänge sind nur in Begleitung eines mahram , eines männlichen Angehörigen, gestattet. Wer allein auf der Straße aufgegriffen wird, wird mit Prügel bestraft und nach Hause geschickt.
Ihr dürft unter keinen Umständen Euer Gesicht zeigen und werdet, wenn im Freien unterwegs, Burka tragen. Zuwiderhandlung wird mit Prügelstrafe geahndet.
Kosmetik ist verboten.
Schmuck ist verboten.
Das Tragen aufreizender Kleider ist verboten.
Ihr dürft nur sprechen, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet.
Ihr werdet mit Männern keinen Blickkontakt aufnehmen.
Ihr werdet in der Öffentlichkeit nicht lachen. Zuwiderhandlung wird mit Prügelstrafe geahndet.
Das Lackieren der Fingernägel ist verboten. Bei Zuwiderhandlung wird ein Finger abgetrennt.
Für Mädchen ist der Besuch einer Schule verboten. Alle Mädchenschulen werden mit sofortiger Wirkung geschlossen.
Erwerbsarbeit ist Frauen verboten.
Wer sich des Ehebruchs schuldig macht, wird gesteinigt.
Nehmt dies zur Kenntnis. Gehorcht. Allah-u-akbar.
Raschid schaltete das Radio aus. Sie hockten auf dem Boden des Wohnzimmers und aßen zu Abend. Es war noch keine Woche her, dass sie Nadschibullahs Leiche an der Laterne hatten hängen sehen.
»Sie können doch nicht verlangen, dass die Hälfte der Bevölkerung zu Hause bleibt und nichts tut«, sagte Laila.
»Warum nicht?«, fragte Raschid. Mariam stimmte ihm ausnahmsweise zu. Von ihr und Laila verlangte er das schließlich schon lange. Das musste doch auch Laila begreifen.
»Wir leben schließlich nicht in irgendeinem Dorf, sondern in Kabul. Hier arbeiten Frauen als Rechtsanwältinnen und Ärztinnen; manche hatten Regierungsämter inne …«
Raschid grinste. »So spricht das arrogante Töchterchen eines Universitätsmannes, der Gedichte gelesen hat. Wie mondän, wie tadschikisch. Du hältst die Taliban wohl für verrückt. Aber hast du dich mal darum gekümmert, wie es in Afghanistan wirklich zugeht, im Süden, im Osten, entlang der pakistanischen Grenze? Nein? Ich schon. Und ich kann dir sagen, dass es in diesem Land viele Gegenden gibt, in denen das, was die Taliban jetzt auch bei uns einzuführen versuchen, längst gang und gäbe ist. Mehr oder weniger jedenfalls. Aber davon hast du ja keine Ahnung.«
»Ich mag es nicht glauben«, sagte Laila. »Das kann doch nicht deren Ernst sein.«
»Wie sie mit Nadschibullah umgegangen sind, erschien mir durchaus ernsthaft«, entgegnete Raschid. »Findest du nicht auch?«
»Er war Kommunist. Er war Chef der Geheimpolizei.«
Raschid lachte.
Mariam hörte seinem Lachen an, was er dachte: dass Nadschibullah als Kommunist und Chef der gefürchteten KHAD in den Augen der Taliban
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