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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Sajids Tür geklopft. Dieser Ort war Welten entfernt von dem Elend, das er hinter sich zurücklassen wollte. Allein der Gedanke an Not und Kummer schien ihm hier fehl am Platz zu sein.
    »Ich dachte mir, das ist ein Ort, an dem ich was aus mir machen kann.«
    Tarik wurde als Hausmeister angestellt, absolvierte eine einmonatige Probezeit, in der er zum halben Lohn arbeitete, und konnte sich, wie er sagte, bewähren. Während Tarik sprach, stellte sich Laila den Hotelbesitzer Sajid als einen Mann mit eng stehenden Augen und rötlichem Gesicht vor, der am Fenster in der Rezeptionshalle stand und Tarik beim Holzhacken und Schneeschaufeln zuschaute. Sie sah ihn über Tarik stehen, der unter einem Waschbecken am Boden lag und das undichte Abflussrohr reparierte, und sie sah, wie er in der Registrierkasse nachprüfte, ob womöglich Geld fehlte.
    Er selbst, sagte Tarik, habe eine Hütte neben dem kleinen Bungalow der Köchin bezogen, einer matronenhaften alten Witwe namens Adiba. Beide Hütten gehörten zum Hotel, dessen Hauptgebäude von Mandelbäumen abgeschirmt wurde, unter denen im Sommer aus einem pyramidenförmigen Brunnen den ganzen Tag lang Wasser sprudelte. Laila malte sich aus, wie Tarik in seiner Hütte auf dem Bett hockte und durchs Fenster auf eine Welt voller Blüten und Blätter blickte.
    Nach der Probezeit bezog Tarik das volle Gehalt. Darüber hinaus hatte er freie Kost und Logis. Sajid schenkte ihm sogar einen Wollmantel und versprach, ihm eine neue Prothese anpassen zu lassen. Tarik sagte, die Freundlichkeit dieses Mannes habe ihn zu Tränen gerührt.
    Mit seinem ersten Monatslohn in der Tasche war Tarik auf den Markt gegangen, wo er Alyona erstanden hatte.
    »Ihr Fell ist ganz und gar weiß«, sagte er lächelnd. »Wenn es in der Nacht geschneit hat und ich morgens aus dem Fenster schaue, sehe ich von ihr nur zwei Augen und die Nüstern.«
    Laila nickte. Es wurde wieder still. Oben hatte Zalmai damit angefangen, seinen Ball gegen die Wand zu werfen.
    »Ich dachte, du wärst tot«, flüsterte Laila.
    »Ich weiß. Das sagtest du bereits.«
    Ihr blieb die Stimme weg. Sie räusperte sich, nahm Haltung an. »Der Mann, der mir die Nachricht brachte, wirkte so ernst … Ich habe ihm geglaubt, Tarik. Leider. Wären mir doch Zweifel gekommen! Aber ich fühlte mich so allein und hatte schreckliche Angst. Sonst hätte ich nie eingewilligt, Raschid zu heiraten. Auf keinen Fall hätte ich …«
    »Lass gut sein. Du musst mir nichts erklären«, sagte er ruhig und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Seine Worte waren ohne jeden Vorwurf oder Anklänge von Enttäuschung.
    »Doch, ich muss es dir erklären. Es gab einen sehr gewichtigen Grund, warum ich ihn geheiratet habe. Es gibt da etwas, das du wissen solltest. Ich muss es dir sagen.«
    »Hast du auch mit ihm gesprochen?«, fragte Raschid Zalmai.
    Zalmai schwieg. Er war merklich verunsichert. Es schien, als spürte er, etwas ausgeplappert zu haben, das Schaden anzurichten drohte.
    »Ich habe dich was gefragt, Junge.«
    Zalmai schluckte. »Ich war oben und hab mit Khala Mariam gespielt.«
    »Und deine Mutter?«
    Der Kleine war den Tränen nahe und blickte flehend zu seiner Mutter auf.
    »Keine Bange, Zalmai«, sagte Laila. »Sag die Wahrheit.«
    »Sie war … hier unten und hat mit dem Mann gesprochen«, sagte er mit dünner Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.
    »Verstehe«, knurrte Raschid. »Teamarbeit.«
    Als er aufbrach, um zu gehen, sagte Tarik: »Ich will sie sehen. Ich möchte zu ihr.«
    »Das lässt sich einrichten«, erwiderte Laila.
    »Aziza. Aziza.« Lächelnd ließ er sich die Silben auf der Zunge zergehen. Wenn Raschid den Namen aussprach, klang er ungeschlacht, fast vulgär. »Aziza. Ein schöner Name.«
    »Schön wie das Kind. Du wirst sehen.«
    »Ich zähle die Minuten.«
    Fast zehn Jahre waren seit ihrem letzten Stelldichein vergangen, seit den heimlichen Küssen in der kleinen Gasse und auf dem Boden des Wohnzimmers. Laila fragte sich, welchen Eindruck sie jetzt wohl auf ihn machte. Ob sie ihm noch gefiel? Oder fand er sie verbraucht, erbärmlich oder gar abstoßend? Fast zehn Jahre. Doch als sie im hellen Sonnenlicht neben Tarik vor der Tür stand, war ihr für einen Moment, als hätte es all diese Jahre nicht gegeben. Den Tod ihrer Eltern, die Eheschließung mit Raschid, die zahllosen Kriegsopfer, die Raketen, die Taliban, die Schläge, den Hunger oder auch ihre Kinder. All das erschien ihr fast wie ein Traum, ein bizarres Intermezzo

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