Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
Vom Netzwerk:
weggenommen. Nicht auch noch Laila.
    Mariam packte die Schaufel mit beiden Händen am Stiel und hob sie über den Kopf. Sie rief ihn beim Namen. Sie wollte sein Gesicht sehen.
    »Raschid.«
    Er blickte auf.
    Mariam schlug zu.
    Sie traf ihn über der Schläfe. Er ließ von Laila ab und kippte zur Seite.
    Raschid wischte sich mit der Hand über den Kopf, sah das Blut an seinen Fingern und richtete dann den Blick auf Mariam. Es schien, dass sich seine Miene entspannte. Mariam dachte, der Schlag habe ihn vielleicht zur Besinnung gebracht. Vielleicht sah er auch etwas in ihrem Gesicht, das ihn aufmerken ließ. Vielleicht sah er Zeichen jener Selbstverleugnung, der Aufopferung und Strapazen, die sie das jahrelange Zusammenleben mit ihm gekostet hatten, ein Leben, das aus Gewalt und Zumutungen, Vorwürfen und Gemeinheiten bestand. Was war es, das sie da in seinen Augen sah? Respekt? Bedauern?
    Doch dann verzog sich sein Mund zu einem tückischen Grinsen, und Mariam sah ein, dass es falsch wäre, vielleicht sogar unverantwortlich, wenn sie jetzt nachgäbe. Wenn sie ihn aufstehen ließe, würde er nicht lange fackeln, nach oben gehen und seine Pistole aus dem Zimmer holen, in dem er Zalmai eingesperrt hatte. Hätte Mariam sicher sein können, dass er nur sie erschießen und Laila verschonen würde, wäre sie womöglich eingeknickt. Doch aus Raschids Blicken sprach, dass er entschlossen war, sie beide umzubringen.
    Und so holte Mariam noch einmal mit der Schaufel aus, so weit, dass das Blatt ihr Kreuz berührte. Und während sie die Schaufelkante in Schlagrichtung brachte, wurde ihr bewusst, dass sie zum allerersten Mal in ihrem Leben das Heft des Handelns selbst in die Hand nahm.
    Mit diesem Gedanken führte sie den Schlag aus und setzte all ihre Kraft hinein.

46
    Laila
    Laila war sich der lebensbedrohlichen Gefahr bewusst, die im wutverzerrten Gesicht über ihr geschrieben stand. Sie nahm auch Mariam am Rande wahr, die mit ihren Fäusten auf Raschid eintrommelte. Ihr Blick aber war unter die Zimmerdecke gerichtet, auf die dunklen Schimmelflecken, die sich wie Tinte auf einem Stofftuch ausbreiteten, und die Risse im Putz, die, je nachdem, wo man im Zimmer stand, mal wie ein gleichmütiges Lächeln, mal wie ein Stirnrunzeln anmuteten. Laila dachte daran, wie oft sie mit Lappen und Besen die Spinnweben aus den Ecken entfernt hatte. Dreimal hatten sie und Mariam diese Decke mit weißer Farbe überstrichen. Die Risse erschienen ihr jetzt nicht wie ein Lächeln, sondern wie ein höhnisches Grinsen, das sich immer weiter von ihr entfernte. Die Zimmerdecke hob sich, schrumpfte, stieg auf in eine diesige Düsternis. Bald hatte sie nur noch die Größe einer Briefmarke, strahlend weiß, umgeben von Schwärze, darin das Gesicht von Raschid wie ein heller Fleck.
    Funken sprühten vor ihren Augen wie kleine silberne Sterne, die zerstoben. Bizarre Lichter bewegten sich auf und ab, hin und her, verschmolzen miteinander, verformten sich, verblassten und verschwanden im Dunkeln.
    Gedämpfte, ferne Stimmen.
    Unter ihren Lidern tauchten unscharf die Gesichter ihrer Kinder auf. Aziza, wachsam und betrübt, wissend, verschlossen; Zalmai, voller Eifer und mit bangem Blick auf seinen Vater.
    So also sollte es enden. Was für ein jämmerlicher Abgang, dachte Laila.
    Doch dann verflüchtigte sich die Dunkelheit. Sie wähnte sich aufgerichtet, hochgehoben. Die Zimmerdecke rückte wieder näher und breitete sich aus, so dass bald wieder die Risse zu erkennen waren, und sie schienen wieder das altvertraute dumpfe Lächeln zu zeigen.
    Jemand rüttelte an ihrer Schulter. »Ist mit dir alles in Ordnung? Antworte, alles in Ordnung?« Mariams Gesicht, zerkratzt und sorgenvoll, schwebte über ihr.
    Laila schnappte nach Luft. Ihre Kehle brannte. Als sie das zweite Mal Atem schöpfte, brannte auch die Brust. Dann hustete und ächzte sie. Sie atmete, wenn auch keuchend. In ihrem gesunden Ohr rauschte es.
    Als sie sich aufrichtete, fiel ihr erster Blick auf Raschid. Er lag reglos auf dem Rücken und starrte ins Nichts. Er hatte den Mund geöffnet wie ein Fisch auf dem Trockenen. Rosafarbener Schaum rann ihm von den Wangen. Der Hosenschritt war durchnässt. Laila sah seine Stirn.
    Dann sah sie die Schaufel.
    Sie stöhnte laut auf. »Oh«, hauchte sie stimmlos. »Oh, Mariam.«
    Jammernd irrte Laila im Zimmer auf und ab. Mariam hockte neben Raschid am Boden, die Hände im Schoß, ruhig und ergeben. Sie gab keinen Laut von sich.
    Laila zitterte am ganzen Leib. Ihr

Weitere Kostenlose Bücher