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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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zwischen dem letzten Nachmittag mit ihm und dem heutigen Wiedersehen.
    Plötzlich wurde Tariks Miene ernst. Sie kannte diesen Ausdruck. Der war auch damals, vor Ewigkeiten, auf seinem Gesicht zu sehen gewesen, als er sein Bein abgeschnallt und Khadim damit verdroschen hatte. Er streckte nun die Hand aus und berührte ihren Mundwinkel.
    »Er behandelt dich schlecht«, sagte er wütend.
    Von seiner Berührung erregt, erinnerte sich Laila an den Nachmittag voller Leidenschaft, als sie Aziza empfangen hatte. Sie meinte, seinen Atem im Nacken zu spüren, die angespannten Muskeln seiner Hüften, den Druck seines Körpers auf ihren Brüsten, die ineinander verschränkten Hände.
    »Ach, hätte ich dich doch mit mir genommen«, flüsterte Tarik. Laila musste gegen die Tränen ankämpfen und blickte zu Boden.
    »Ich weiß, du bist eine verheiratete Frau und Mutter. Und ich kreuze nach all den Jahren, nach alldem, was passiert ist, vor deinem Haus auf. Vielleicht war es nicht richtig, vielleicht ist es unfair, aber ich bin den weiten Weg gekommen, um dich zu sehen und … Oh, Laila, hätte ich dich doch nie allein gelassen.«
    »Hör auf«, krächzte sie.
    »Ich hätte hartnäckiger sein sollen. Ich hätte dich heiraten sollen, als es noch möglich war. Dann wäre alles anders gekommen.«
    »Sprich nicht so. Bitte. Es tut mir weh.«
    Er nickte, trat einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen. »Mir ist klar, dass ich keine Ansprüche stellen kann. Es steht mir auch nicht zu, aus dem Nichts aufzutauchen und dein Leben auf den Kopf zu stellen. Wenn du willst, dass ich verschwinde und nach Pakistan zurückkehre, brauchst du es nur zu sagen, Laila. Ich meine es ehrlich. Sag’s, und ich gehe, ohne dich jemals wieder zu belästigen. Ich werde …«
    »Nein!«, sagte Laila, schärfer als beabsichtigt. Sie ergriff seinen Arm, klammerte sich daran fest und senkte den Kopf. »Nein. Geh nicht, Tarik. Bitte bleib.«
    Tarik nickte.
    »Er arbeitet von zwölf bis acht Uhr abends. Komm morgen Nachmittag zurück. Dann werden wir zusammen Aziza besuchen.«
    »Denk nicht, dass ich Angst vor ihm hätte.«
    »Ich weiß. Komm morgen Nachmittag.«
    »Und dann?«
    »Und dann … Wer weiß? Ich muss nachdenken. Es ist …«
    »Ich weiß, was ist«, erwiderte er. »Ich verstehe. Es tut mir leid. Mir tut vieles leid.«
    »Gräm dich nicht. Du hast versprochen zurückzukehren und dein Versprechen gehalten.«
    Seine Augen wurden feucht. »Es ist gut, dich zu sehen, Laila.«
    Sie stand zitternd da und schaute ihm nach. Bände von Briefen , dachte sie, von einem Schauer geschüttelt, in dem Trauer und Verlorenheit schwangen, gleichzeitig aber auch so etwas wie waghalsige Hoffnung.

45
    Mariam
    »Ich war oben und hab mit Khala Mariam gespielt.«
    »Und deine Mutter?«
    »Sie war … sie war hier unten und hat mit dem Mann gesprochen.«
    »Verstehe«, knurrte Raschid. »Teamarbeit.«
    Mariam sah, wie sich seine Miene entspannte. Die Falte zwischen den Brauen verschwand. In seinen Augen zeigten sich Argwohn und Zweifel. Er straffte die Schultern und schien für einen Moment einfach nur nachdenklich zu sein – wie ein Schiffskapitän, der gerade den Hinweis auf eine bevorstehende Meuterei erhalten hatte und darüber nachdachte, was zu tun war.
    Er blickte auf.
    Mariam wollte etwas sagen, doch er hob die Hand und sagte, ohne sie anzusehen: »Zu spät, Mariam.« Und an Zalmai gewandt: »Geh nach oben, Junge.«
    Zalmai war sichtlich alarmiert. Nervös sprang sein Blick zwischen den dreien hin und her. Er schien zu spüren, dass er mit seinem Plappermaul die Erwachsenen ernstlich verstört hatte.
    »Sofort«, knurrte Raschid.
    Er packte Zalmai beim Ellbogen und führte ihn zur Treppe.
    Mariam und Laila standen reglos da. Beide starrten vor sich hin, als fürchteten sie, Raschids Argwohn Nahrung zu geben, wenn sie einander ansähen, ihm Grund zu der Annahme zu geben, dass, während er Hotelgästen, die ihn keines Blickes würdigten, die Tür aufhielt und deren Koffer schleppte, hinter seinem Rücken und in seinem Haus verschwörerische Unzucht getrieben wurde, und das in Gegenwart seines geliebten Sohnes. Keine von ihnen sagte ein Wort. Sie lauschten den Schritten im Obergeschoss, die einen bedrohlich und schwer, die anderen trippelnd wie die eines scheuen kleinen Tieres. Sie hörten die gedämpften Worte, die gewechselt wurden, ein flehentliches Fiepen, eine barsche Erwiderung. Eine Tür schlug zu, ein Schlüssel klapperte im Schloss. Und dann kamen die

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