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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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eingezogen.«
    »Willst du mal fühlen?« Er senkte den Kopf.
    Die winzigen Stoppeln kratzten angenehm auf der Handfläche. Tarik war beileibe nicht so wie die anderen Jungen, deren Haar eierförmige Schädel und unansehnliche Wülste verbarg. Tariks Kopf war perfekt gerundet und ohne jeden Makel.
    Als er aufblickte, bemerkte Laila, dass seine Wangen und die Stirn gebräunt waren.
    »Warum warst du so lange weg?«, fragte sie.
    »Mein Onkel war krank. Komm. Komm rein.«
    Er führte sie ins Wohnzimmer. Laila liebte alles in diesem Haus, selbst den durchgetretenen alten Teppich oder die Patchwork-Decke auf der Couch und das übliche Durcheinander: die Stoffreste seiner Mutter, ihre Nähnadeln, die in Garnspulen steckten, die Zeitungen von vorgestern und den alten Akkordeonkasten in der Ecke.
    »Wer ist da?«
    Seine Mutter rief aus der Küche.
    »Laila«, antwortete er.
    Er rückte ihr einen Stuhl zurecht. Dank des Doppelfensters, das sich zum Hof hin öffnete, war es sehr hell im Wohnzimmer von Tariks Familie. Auf dem Sims standen Gläser, in denen seine Mutter Auberginen und Karottenmarmelade einweckte.
    »Also unsere aroos , unsere Schwiegertochter«, sagte sein Vater, als er den Raum betrat. Er war Schreiner, ein hagerer weißhaariger Mann Anfang sechzig. Er hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen und die blinzelnden Augen eines Mannes, der die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbrachte. Laila lief in seine ausgebreiteten Arme und genoss den angenehmen, vertrauten Duft von Sägemehl. Sie küssten einander dreimal auf die Wangen.
    »Du riskierst, dass sie nicht mehr kommt, wenn du sie weiterhin so nennst«, sagte Tariks Mutter, die mit einer Schüssel und vier Schalen auf einem Tablett ins Zimmer trat. Sie stellte das Tablett ab, schmiegte beide Hände um Lailas Gesicht und sagte: »Schön, dich zu sehen. Nimm Platz, meine Liebe. Ich habe eingelegte Früchte aus dem Süden mitgebracht.«
    Der Tisch war etwas klobig geraten und bestand aus hellem unbehandeltem Holz – Tariks Vater hatte ihn geschreinert, wie auch die Stühle. Darauf lag eine moosgrüne Plastikdecke, gemustert mit kleinen magentaroten Halbmonden und Sternen. Ringsum an den Wänden hingen Fotos von Tarik in verschiedenen Altersstufen. Auf denen aus frühen Jahren hatte er noch zwei Beine.
    »Ihr Bruder war krank?«, fragte Laila und tauchte den Löffel in das Dessert aus gewässerten Rosinen, Pistazien und Aprikosen.
    Er steckte sich gerade eine Zigarette an. »Ja, aber jetzt geht’s ihm schon viel besser, shokr e Khoda , Gott sei Dank.«
    »Er hatte seinen zweiten Herzinfarkt«, erklärte Tariks Mutter und bedachte ihren Mann mit strengem Blick.
    Der blies Rauch in die Luft und zwinkerte Laila zu. Tariks Eltern hätte man durchaus auch für seine Großeltern halten können. Seine Mutter war schon weit über vierzig gewesen, als sie ihn zur Welt gebracht hatte.
    »Wie geht’s deinem Vater, meine Liebe?«, fragte Tariks Mutter über den Rand ihrer Schale hinweg.
    Sie trug, so lange Laila sie kannte, eine Perücke, die inzwischen einen stumpfen Violettton angenommen hatte. Heute saß sie etwas zu tief in der Stirn und ließ an den Seiten graue Haare zum Vorschein treten. Manchmal war sie auch zu weit in den Nacken gerutscht. Auf Laila aber machte Tariks Mutter nie einen bedauernswerten Eindruck. Laila sah unter der Perücke ein ruhiges, selbstbewusstes Gesicht, kluge Augen und ein angenehmes, gelassenes Wesen.
    »Ihm geht’s gut«, antwortete Laila. »Er arbeitet natürlich immer noch für Silo, scheint aber zufrieden zu sein.«
    »Und deine Mutter?«
    »Hat ihre guten und schlechten Tage. Wie immer.«
    »Ja«, sagte Tariks Mutter, nachdenklich in ihrer Schale rührend. »Es muss einer Mutter schrecklich schwer ums Herz sein, wenn ihre Söhne fort sind.«
    »Bleibst du zum Mittagessen?«, fragte Tarik.
    »Unbedingt«, sagte seine Mutter. »Es gibt shorwa .«
    »Ich will nicht mozahem sein.«
    »Aufdringlich?«, sagte Tariks Mutter. »Kaum sind wir ein paar Wochen weg, und schon wirst du uns gegenüber genierlich.«
    »Na schön, ich bleibe«, entgegnete Laila errötend und lächelte.
    »Das wäre also abgemacht.«
    Tatsächlich aß Laila mit Tarik und dessen Eltern viel lieber als bei sich zu Hause, wo sie meist allein am Tisch saß. Sie mochte die lilafarbenen Plastikbecher, die hier zum Trinken benutzt wurden, und den Wasserkrug, in dem immer Zitronenspalten schwammen. Es gefiel ihr, dass jede Mahlzeit mit einer Schale frischem Joghurt

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