Tausend strahlende Sonnen
Hausaufgaben helfen, obwohl du eine Klasse über mir bist?«
»Ich wäre schon zwei Klassen weiter, wenn mich Mathe nicht so langweilen würde.«
»Erdkunde langweilt dich dann wohl auch.«
»Woher weißt du das? Schluss jetzt. Gehen wir in den Zoo, ja oder nein?«
Laila lächelte. »Ja.«
»In Ordnung.«
»Du hast mir gefehlt.«
Es entstand eine Pause. Dann wandte sich Tarik ihr mit einer Miene zu, die, halb grinsend, halb grimassierend, Missfallen zum Ausdruck bringen sollte. »Was ist bloß los mit dir?«
Den Schulfreundinnen fiel es nicht schwer, diese vier Wörter zu sagen, wenn sie sich einmal zwei oder drei Tage lang nicht gesehen hatten. »Du hast mir gefehlt, Hasina.« – »Oh, du mir auch.« Tariks Grimasse aber zeigte ihr, dass Jungs in dieser Hinsicht anders waren. Sie machten kein Aufhebens um freundschaftliche Gefühle und hatten offenbar nicht das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Von ihren Brüdern, so dachte Laila, wäre wahrscheinlich auch nicht mehr zu erwarten. Anscheinend war für Jungen Freundschaft so selbstverständlich wie die Sonne; man genoss ihre Wärme, setzte sich den Strahlen aber lieber nicht direkt aus.
»Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern«, sagte sie.
Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Das ist dir gelungen.«
Immerhin war, wie sie bemerkte, seine Miene nun wieder entspannter, und es schien, als hätte die Sonnenbräune seiner Wangen für einen Moment zugenommen.
Laila hatte eigentlich kein Wort darüber verlieren wollen, denn ihr war klar, dass Tarik die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte und irgendjemand verletzt werden würde. Doch als sie später das Haus verließen und auf die Bushaltestelle zugingen, sah sie Khadim im Kreis seiner Freunde an einer Mauer lehnen, die Daumen in den Hosenbund gesteckt und mit trotzigem Grinsen im Gesicht.
Da platzte es aus ihr heraus, und sie erzählte Tarik, was vorgefallen war.
»Was hat er getan?«
Sie wiederholte die Geschichte.
Er zeigte mit dem Finger auf Khadim. »Der da? Er war’s? Bist du dir sicher?«
»Ja.«
Tarik biss die Zähne zusammen und stieß einen Satz auf Paschto hervor, den Laila nicht verstand. »Du wartest hier«, sagte er wieder auf Farsi.
»Nein, Tarik …«
Doch er er war schon losgegangen.
Khadim grinste nicht mehr, als er ihn kommen sah. Er stieß sich von der Mauer ab, nahm die Daumen aus dem Hosenbund und straffte die Schultern. Er gab sich alle Mühe, bedrohlich zu wirken. Die anderen folgten seinem Beispiel.
Laila bereute, Tarik von dem Vorfall erzählt zu haben. Was, wenn die ganze Meute – wie viele waren es? Elf, zwölf? – über ihn herfallen würde? Was, wenn sie ihn verletzten?
Tarik blieb wenige Meter vor Khadim und seiner Bande stehen. Er schien zu zögern, und als er sich bückte, glaubte Laila, dass er seine Schnürsenkel festzubinden vortäuschte, um dann zu ihr zurückzukehren. Aber dann sah sie, was er tatsächlich vorhatte.
Die anderen sahen es auch. Tarik richtete sich auf und hüpfte, die Prothese wie ein Schwert hoch über dem Kopf erhoben, einbeinig in weiten Sätzen auf Khadim zu.
Die Jungen stoben auseinander und machten ihm den Weg frei.
Dann wirbelte Staub auf, Fäuste flogen, es wurde getreten und geschrien.
Khadim belästigte Laila nie wieder.
Wie an den meisten Tagen deckte Laila auch an diesem Abend den Tisch nur für zwei. Meist hatte Mami entweder keinen Hunger, oder sie ging mit dem Teller auf ihr Zimmer, ehe Babi zurückkehrte, und wenn Laila und Babi zu Tisch saßen, lag sie schon im Bett.
Wenn Babi von der Arbeit kam, ging er zuerst immer ins Badezimmer, um sich den Mehlstaub aus den Haaren zu spülen.
»Was gibt’s heute?«, fragte er, als er, frisch gewaschen und die Haare zurückgekämmt, das Wohnzimmer betrat.
»Den Rest der aush -Suppe.«
»Prima«, sagte er und faltete das Handtuch zusammen, mit dem er sich abgetrocknet hatte. »Und womit werden wir uns anschließend beschäftigen? Mit der Addition von Brüchen?«
»Diesmal muss ich Brüche in Dezimalzahlen auflösen.«
»Ah. Richtig.«
Jeden Abend half Babi seiner Tochter bei den Hausaufgaben und stellte ihr dann auch noch zusätzliche Aufgaben. Er wollte, dass Laila ihren Mitschülerinnen stets einen oder zwei Schritte voraus war. Nicht, dass er den von der Schule angebotenen Lernstoff für allzu dürftig erachtet hätte. Im Gegenteil, ungeachtet der ideologischen Propaganda, die dort vermittelt wurde, hielt er den Kommunisten immerhin eines zugute, und das war
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