Tausend strahlende Sonnen
Womit?«
»Pisse. Urin.«
»Das ist … das ist ja schrecklich. Gütiger Himmel. Armes Ding. Den Lümmel werd ich mir vorknöpfen, gleich morgen früh. Oder vielleicht sollte ich lieber gleich seiner Mutter ein paar Takte flüstern. Ja, ich glaube, das wäre besser.«
»Du weißt doch noch gar nicht, wer’s war.«
»Oh. Und? Wer war’s?«
»Nicht der Rede wert.«
»Du bist wütend.«
»Du wolltest mich von der Schule abholen.«
»Ach ja?«, krächzte Mami. Ob sie damit ihr Versäumnis bedauerte oder die Verabredung in Frage stellte, hätte Laila nicht sagen können. Mami zupfte sich an den Haaren. Es zählte für Laila zu den größten Rätseln der Natur, dass ihre Mutter, die sich ständig an den Haaren zupfte, nicht längst kahl war wie ein Ei. »Was ist mit … wie war noch gleich sein Name? Mit deinem Freund Tarik? Wo steckt er?«
»Er ist verreist.«
»Oh.« Mami schniefte. »Hast du dich gewaschen?«
»Ja.«
»Dann bist du also wieder sauber.« Mami schaute zum Fenster hin. »Du bist sauber, und alles ist in Ordnung.«
Laila stand auf. »Ich muss jetzt meine Hausaufgaben machen.«
»Natürlich, recht so. Zieh bitte die Vorhänge zu, bevor du gehst, Liebes«, hauchte Mami und sank ins Kissen zurück.
Als Laila vorm Fenster stand und nach den Vorhängen griff, sah sie ein Auto durch die Straße fahren, gefolgt von einer dichten Staubwolke. Es war der blaue Benz aus Herat. Die Fensterscheiben glitzerten im Sonnenlicht. Sie blickte dem Wagen nach, bis er an der nächsten Ecke abbog und verschwand.
»Morgen werde ich nicht vergessen, dich abzuholen«, flüsterte Mami. »Versprochen.«
»Das hast du gestern auch gesagt.«
»Ach, wenn du wüsstest, Laila.«
»Was?« Laila wirbelte auf dem Absatz herum und wandte sich ihrer Mutter zu. »Wenn ich was wüsste?«
Mami klopfte sich matt mit der Hand auf die Brust. »Wie’s da drinnen aussieht. Du hast ja keine Ahnung.«
18
Die Woche verging, ohne dass Tarik von sich hätte hören lassen, dann noch eine weitere Woche.
Um sich die Zeit zu vertreiben, flickte Laila die Fliegengittertür, wozu Babi immer noch nicht gekommen war. Anschließend nahm sie all seine Bücher aus dem Regal, staubte sie ab und ordnete sie alphabetisch. Sie ging in die Hühnerstraße, begleitet von Hasina, Giti und deren Mutter, einer Näherin, die gelegentlich zusammen mit Mami für andere nähte. In dieser Woche gelangte Laila zu der Auffassung, dass von allen Nöten, die einen Menschen befallen können, das lange Warten am schwersten zu ertragen war.
Eine weitere Woche ging zu Ende.
Laila wurde von schrecklichen Gedanken heimgesucht.
Er käme nie zurück. Seine Eltern waren womöglich für immer fortgezogen, und die Fahrt nach Ghazni hatte nur als Vorwand dienen sollen, listig eingefädelt von den Eltern, um den beiden einen schmerzlichen Abschied zu ersparen.
Womöglich war er wieder auf eine Landmine getreten, so wie damals, 1981, als er, fünfjährig, das letzte Mal mit seinen Eltern nach Ghazni in den Süden gefahren war, kurz nach Lailas drittem Geburtstag. Er hatte damals noch Glück gehabt und nur ein Bein verloren, Glück, überhaupt am Leben geblieben zu sein.
Ihr Kopf war voll von solch quälenden Gedanken.
Dann, eines Abends, sah Laila endlich ein kleines Licht in der Straße blinken. Ihren Lippen entwich ein Laut, halb Quieken, halb Keuchen. Eilig fischte sie ihre Taschenlampe unter dem Bett hervor, nur um feststellen zu müssen, dass sie nicht funktionierte. Wütend schlug sie die Lampe auf die offene Hand und verfluchte die leeren Batterien. Sei’s drum. Er war wieder da. Vor Erleichterung ganz schwindlig, setzte sich Laila auf die Bettkante und betrachtete das wunderschöne gelbe Auge, das ihr zuzwinkerte.
Als sie sich am nächsten Tag auf den Weg zu Tariks Haus machte, sah Laila Khadim mit ein paar Freunden auf der anderen Straßenseite. Khadim hockte auf den Fersen und zeichnete mit einem Stock Figuren in den Staub. Als er sie sah, ließ er den Stock fallen, griff mit krabbelnden Fingern in die Luft und sagte etwas, worüber sich die anderen ausschütteten vor Lachen. Mit gesenktem Kopf stürmte Laila an ihnen vorbei.
»Was hast du getan ?«, schimpfte sie, als Tarik ihr die Tür geöffnet hatte. Dann fiel ihr ein, dass sein Onkel Friseur war.
Tarik fuhr mit der Hand über seinen frisch rasierten Schädel und zeigte lachend seine weißen, ein wenig schiefen Zähne.
»Gefällt’s dir?«
»Du siehst aus, als hätte dich das Militär
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