Tausend strahlende Sonnen
ironischerweise deren Wertschätzung für Ausbildung und Lehre, von der sie ihn selbst ausgeschlossen hatten. Zumindest hatten die Kommunisten sich das auf die Fahnen geschrieben, insbesondere die Ausbildung von Frauen. Die Regierung finanzierte Alphabetisierungskurse für alle Frauen. Inzwischen seien, sagte Babi, fast zwei Drittel der Studierenden an der Universität von Kabul Frauen, die nicht zuletzt auch Studienfächer wie Jura, Medizin und Ingenieurwissenschaften belegten.
»Frauen hatten es immer schwer in diesem Land, Laila. Jetzt, unter den Kommunisten, sind sie womöglich freier als je zuvor; jedenfalls haben sie mehr Rechte«, hatte er mit gedämpfter Stimme gesagt, weil er sich vor Mami hütete, die an den Kommunisten kein gutes Haar lassen mochte. »Es ist wahr, für afghanische Frauen sind gute Zeiten angebrochen, und auch du kannst davon profitieren, Laila.« An dieser Stelle hatte er bekümmert den Kopf geschüttelt und hinzugefügt: »Leider ist dies, die Freiheit der Frauen, einer der Gründe, warum die Leute da draußen zu den Waffen greifen.«
Mit »da draußen« war nicht Kabul gemeint, deren Bürger immer schon als vergleichsweise liberal und progressiv galten. Hier in Kabul lehrten Frauen sogar an der Universität, sie übten Regierungsämter aus und leiteten Schulen. Nein, Babi meinte die Stammesgebiete, insbesondere die der Paschtunen im Süden oder die Region im Osten nahe der pakistanischen Grenze, wo sich Frauen nur noch in Burka und in männlicher Begleitung auf den Straßen zeigen durften. Er meinte jene Gebiete, wo Männer nach alten Stammesregeln lebten und gegen die Kommunisten rebellierten, weil diese die Zwangsehe abzuschaffen versuchten und das heiratsfähige Alter für Mädchen auf sechzehn Jahre heraufgesetzt hatten. Von einer Regierung – zumal einer gottlosen – vorgeschrieben zu bekommen, dass ihre Töchter zur Schule gehen und am Arbeitsplatz den Männern gleichgestellt sein müssten, kam für Männer einer Beleidigung jahrhundertealter Traditionen gleich.
»Gott bewahre, dass so etwas passiert!«, frotzelte Babi gern. Dann seufzte er immer und sagte: »Laila, meine Liebe, der einzige Feind, den eine Afghane niemals wird bezwingen können, ist niemand anders als er selbst.«
Babi setzte sich an den Kopf des Tisches und tunkte ein Stück Brot in seine aush .
Laila hatte vor, ihm von der Schlägerei zwischen Tarik und Khadim zu erzählen. Doch dazu kam sie nicht, denn plötzlich klopfte es an der Tür.
19
»Ich muss mit deinen Eltern sprechen, dokhtar jan .« Laila hatte einem fremden Mann die Tür geöffnet. Er war untersetzt, sein Gesicht scharf geschnitten und vom Wetter gegerbt. Er trug einen sandfarbenen Mantel und einen braunen wollenen pakol auf dem Kopf.
»Wie ist Ihr Name?«
Dann lag Babis Hand auf Lailas Schulter. Sanft zog er sie von der Tür weg und sagte: »Du gehst jetzt besser nach oben auf dein Zimmer.«
Als sie sich auf die Treppe zubewegte, hörte Laila den Besucher sagen, dass er Nachrichten aus dem Pandschir-Tal habe. Mami war inzwischen auch im Wohnzimmer. Sie hielt eine Hand vor den Mund gedrückt und ließ ihren Blick zwischen Babi und dem Mann mit dem pakol hin und her springen.
Laila lugte durch den Türspalt und sah, wie der Fremde, nachdem er und ihre Eltern Platz genommen hatten, sich nach vorn beugte und die Lippen bewegte. Plötzlich wurde Babi kreidebleich. Er starrte auf seine Hände. Mami fing zu schreien an und zerrte sich an den Haaren.
Am nächsten Morgen, dem Tag der fatiha , kamen Nachbarinnen ins Haus und sorgten für die Vorbereitung des khatm -Mahls, das nach der Trauerfeier stattfinden sollte. Mami saß den ganzen Vormittag über mit verquollenem Gesicht auf der Couch und nestelte an einem Taschentuch. Zwei Frauen saßen rechts und links von ihr; abwechselnd betätschelten sie ihre Hand und waren so vorsichtig dabei, dass man hätte meinen können, Mami sei eine seltene, zerbrechliche Puppe. Sie selbst schien die Frauen gar nicht wahrzunehmen.
Laila kniete sich vor sie hin und ergriff ihre Hände. »Mami.«
Mami senkte den Blick und schaute sie aus glasigen Augen an.
»Wir kümmern uns um sie, Laila jan «, sagte eine der Frauen mit gewichtiger Miene. Laila hatte schon an einigen Trauerfeiern teilgenommen und jedes Mal Frauen wie diese angetroffen, Frauen, die alles, was mit dem Tod zusammenhing, zu genießen schienen. Solche ehrenamtlichen Trösterinnen ließen sich durch nichts und niemanden davon abhalten, den
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