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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Fettschichten vom Fleisch trennte, warf diese ihr nur einen flüchtigen, freudlosen Blick zu. Dann machte sich ein schmerzliches Schweigen zwischen ihnen breit, und Laila spürte eine Feindseligkeit, die ihr wie ein heißer Schwall entgegenschlug. Sie zog sich dann auf ihr Zimmer zurück und betrachtete vom Bett aus das Schneegestöber vorm Fenster.
    Eines Tages nahm Raschid sie mit in sein Schuhgeschäft.
    Unterwegs ging er neben ihr her und hielt mit der Hand ihren Ellbogen gestützt. Sich auf der Straße zu bewegen kam für Laila einer Übung zur Abwehr von Verletzungen gleich. Sie hatte sich immer noch nicht an das einengende Gitterfenster der Burka gewöhnen können und stolperte zudem immer wieder über den Saum. Sie war in ständiger Sorge, einen falschen Schritt zu tun und zu stürzen. Gleichwohl fand sie Trost in der Anonymität, zu der ihr die Burka verhalf. Falls ihr Bekannte von früher begegneten, bliebe sie unerkannt. Es bliebe ihr erspart, verwunderten Blicken standhalten zu müssen, dem Mitleid oder der heimlichen Freude darüber, wie tief sie gefallen war und wie gründlich sich all ihre Hoffnungen zerschlagen hatten.
    Raschids Geschäft war größer und heller als erwartet. Er ließ sie vor der Werkbank Platz nehmen, auf der sich alte Sohlen und Lederreste häuften. Er zeigte ihr seine Hämmer, führte ihr die Schleifmaschine vor und beschrieb mit hoher stolzer Stimme seine Arbeit.
    Er befühlte ihren Bauch, wobei er sich nicht etwa damit begnügte, die Hand auf das Kleid zu legen; er griff darunter und fuhr mit kalten, rauen Fingerkuppen über die gespannte Haut. Laila erinnerte sich an die weichen, aber kräftigen Hände Tariks, an die auf den Handrücken hervortretenden Venen, die einen so männlichen Eindruck auf sie gemacht hatten.
    »Wie schnell der anschwillt«, sagte Raschid. »Es wird bestimmt ein großer Junge. Mein Sohn wird ein strammer pahlawan sein. Wie sein Vater.«
    Laila strich das Kleid glatt. Ihr wurde angst und bange, wenn er so sprach.
    »Wie geht es dir, Laila?«
    Sie antwortete, dass mit ihr alles in Ordnung sei.
    »Gut. Gut.«
    Von dem ersten heftigen Streit mit Mariam erzählte sie nichts.
    Dazu war es vor wenigen Tagen gekommen. Laila hatte sie in der Küche angetroffen, wo sie eine Schublade nach der anderen aufriss und wieder zurammte. Sie suchte, wie sie sagte, nach dem langen Holzlöffel, mit dem sie immer den Reis umrührte.
    »Wo hast du ihn hingetan?«, herrschte sie Laila an.
    »Ich? Ich hab ihn nicht in der Hand gehabt. Wann wäre ich schon einmal hier in der Küche?«
    »Gute Frage.«
    »Soll das ein Vorwurf sein? Du willst es ja so. Du wirst dich wohl erinnern, mir ausdrücklich gesagt zu haben, dass du die Mahlzeiten zubereitest. Wenn du aber willst, dass wir uns abwechseln …«
    »Soll das heißen, dem Löffel sind Beine gewachsen und er hat sich von allein davongemacht? Klammheimlich? Das ist passiert, ja, degeh ?«
    Laila versuchte, Ruhe zu bewahren. Normalerweise fiel es ihr nicht schwer, Mariams Hohn und Zurechtweisungen zu ertragen. An diesem Tag hatte sie allerdings schon seit dem frühen Morgen schreckliches Sodbrennen; außerdem waren die Fußgelenke angeschwollen, und ihr dröhnte der Kopf. »Es könnte ja auch sein, dass du ihn verlegt hast«, sagte sie.
    »Verlegt?« Mariam zerrte eine Schublade so heftig auf, dass ihr Inhalt schepperte. »Seit wann bist du hier? Seit ein paar Monaten. Ich lebe bereits neunzehn Jahre in diesem Haus, dokhtar jo . Dieser Löffel lag schon in dieser Schublade, als du noch in die Windeln gemacht hast.«
    »Trotzdem …« Laila konnte sich kaum mehr beherrschen. Zwischen zusammengebissenen Zähne stieß sie hervor: »Trotzdem ist es möglich, dass du ihn irgendwo liegen gelassen und vergessen hast.«
    »Und es ist möglich, dass du ihn versteckt hast, um mich zu ärgern.«
    »Du bist zu bedauern«, entgegnete Laila.
    Mariam zuckte zusammen, hatte sich aber schnell erholt und schürzte die Lippen. »Und du bist eine Hure. Eine Hure und ein dozd . Eine diebische Hure. Das bist du.«
    Daraufhin gerieten beide außer Kontrolle. Es hätte nicht viel gefehlt, und Töpfe und Geschirr wären geflogen. Die beiden warfen sich Gemeinheiten an den Kopf, Worte, für die sich Laila jetzt schämte. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Laila war immer noch erschrocken über sich selbst; nicht nur, dass sie sich zu diesen Ausfällen hatte hinreißen lassen, es hatte ihr sogar gefallen, Mariam anzuschreien, sie zu

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