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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Flüsterton.
    »Der Arzt sagt, allenfalls sechs Wochen.«
    »Jetzt noch nicht, Raschid. Nein. Lass mich. Bitte. Tu’s nicht.«
    »Es ist schon zwei Monate her.«
    »Psst, leise. Na prima, jetzt hast du das Baby aufgeweckt.« Und mit schärferer Stimme: » Kosh shodi? Endlich zufrieden?«
    Mariam war dann zurück in ihr Zimmer geschlichen.
    Jetzt jammerte Raschid: »Kannst du nicht irgendwie helfen?«
    »Ich kenne mich mit Babys nicht aus«, antwortete Mariam.
    »Raschid! Bringst du mal das Fläschchen? Es steht auf der almari . Sie will nicht trinken. Ich muss es mit der Flasche versuchen.«
    Das Baby fing wieder zu schreien an.
    Raschid schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Dieses Ding ist ein Warlord. Ich sag’s dir, Laila hat einen zweiten Gulbuddin Hekmatyar zur Welt gebracht.«
    Mariam sah, dass das Mädchen ausschließlich mit dem Baby beschäftigt war. Es musste geschaukelt, unterhalten und in regelmäßigen Abständen gestillt werden. Wenn es schlief, waren Windeln zu waschen. Das Mädchen ließ sie in einem Trog einweichen und benutzte dafür ein Desinfektionsmittel, das Raschid auf ihr Drängen hin besorgt hatte. Sie feilte der Kleinen die Fingernägel mit feinem Sandpapier, wusch die Strampler und Nachthemdchen und hängte sie zum Trocknen auf. Auch wegen dieser Sachen gab es immer wieder Streit.
    »Was ist dagegen einzuwenden?«, wollte Raschid wissen.
    »Es sind Sachen für Jungen. Für einen bacha .«
    »Glaubst du etwa, ihr würde der Unterschied auffallen? Ich habe für das ganze Zeug gutes Geld ausgegeben. Und noch etwas: Mir gefällt dein Ton nicht. Versteh meinen Hinweis als Warnung.«
    Regelmäßig einmal in der Woche erhitzte das Mädchen eine kleine Pfanne überm Feuer, röstete darin eine Prise Rautensamen und fächerte den daraus aufsteigenden espandi -Rauch ihrem Kind zu, um es vor bösen Einflüssen zu schützen.
    Mariam konnte die Begeisterung des Mädchens für das Kind kaum ertragen, musste sich aber eingestehen, dass sie auch so etwas wie Bewunderung empfand. Sie bemerkte, wie die Augen des Mädchens geradezu ehrfürchtig leuchteten, selbst morgens nach schlafloser Nacht, wenn ihr Gesicht abgespannt aussah und die Haut wächsern. Das Mädchen konnte herzhaft lachen, wenn das Baby pupste. Die winzigste Veränderung entzückte sie, und jede Regung des Kindes war für sie ein spektakuläres Ereignis.
    »Sieh nur! Sie greift nach der Rassel. Wie clever sie ist.«
    »Ich sollte wohl die Presse rufen«, knurrte Raschid.
    Abends gab es immer kleine Vorführungen, und wenn das Mädchen darauf bestand, dass Raschid Kenntnis davon nahm, hob er das Kinn und warf seinen mürrischen Blick über den blau geäderten Haken seiner Nase.
    »Schau. Schau, wie sie lacht, wenn ich mit den Fingern schnippe. Da. Hast du’s gesehen?«
    Raschid gab dann meist einen Grunzlaut von sich und stocherte weiter in seinem Essen herum. Mariam erinnerte sich, dass ihn vor nicht allzu langer Zeit allein schon die Anwesenheit des Mädchens überwältigt hatte. Jedes Wort von ihr war ihm eine Offenbarung gewesen, jede Geste ein Grund, aufzumerken und anerkennend mit dem Kopf zu nicken.
    Dass das Mädchen bei ihm in Ungnade gefallen war, hätte Mariam mit einem Gefühl von Triumph quittieren können, was sich aber seltsamerweise nicht einstellen wollte. Zu ihrer eigenen Überraschung empfand Mariam Mitleid mit dem Mädchen.
    Das Mädchen war immerzu von Sorgen geplagt, die es allabendlich am Esstisch wortreich zum Ausdruck brachte. An erster Stelle stand die Befürchtung, das Kind könnte an einer Lungenentzündung erkranken, und jedes noch so kleine Husten bestärkte sie darin. Wenn es Durchfall hatte, sah sie schon das Gespenst der Ruhr vor Augen, und jeder Hautausschlag deutete für sie auf Windpocken oder Masern hin.
    »Du solltest dein Herz nicht so sehr daran hängen«, sagte Raschid eines Abends.
    »Was soll das heißen?«
    »Ich habe vor kurzem einen Radiobericht gehört. Von Voice of America. Da wurde eine interessante Statistik genannt. Es heißt, dass in Afghanistan von vier Kindern eines nicht älter wird als fünf. Das spricht wohl für sich – he, was ist? Wo willst du hin? Komm zurück. Komm sofort zurück!«
    Er warf Mariam einen irritierten Blick zu. »Was hat sie bloß?«
    Als Mariam im Bett lag, brach das Gezänk wieder aus. Es war eine heiße, trockene Sommernacht, typisch für den Monat Saratan in Kabul. Mariam hatte das Fenster geöffnet, dann aber wieder geschlossen, weil statt der

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