Tausend strahlende Sonnen
und Enkelkindern ergehen mochte. Und natürlich Jalil. Ob er sich irgendwo versteckt hielt?, fragte sie sich. Oder war er mit Frauen und Kindern außer Landes geflohen? Sie hoffte, dass er sich in Sicherheit befand und dem Krieg hatte entkommen können.
Der Kämpfe wegen musste Raschid eine Woche lang zu Hause bleiben. Er verriegelte die Außenpforte, installierte Sprengfallen und verbarrikadierte die Haustür mit der Couch. Rauchend ging er durchs Haus, spähte durch die Fenster nach draußen und hielt seine Pistole schussbereit. Zweimal feuerte er sie auf die Straße ab und behauptete, dass jemand versucht habe, über die Mauer zu steigen.
»Sie zwingen Halbwüchsige mitzukämpfen«, sagte er. »Die Mudschaheddin. Bei helllichtem Tag und unter vorgehaltenen Waffen entführen sie junge Burschen. Und wenn die von der Gegenseite gefangen genommen werden, blüht ihnen Folter. Ich habe gehört, dass man ihnen Elektroschocks verpasst und die Hoden mit Kneifzangen quetscht. Das habe ich gehört. Diese Jungen werden dazu gezwungen, die Soldaten zum Haus ihrer Eltern zu führen, wo diese dann einbrechen, die Väter töten und die Schwestern und Mütter vergewaltigen.«
Raschid fuchtelte mit der Pistole herum. »Sollen sie es nur wagen, in mein Haus einzubrechen. Dann werde ich denen die Eier zerquetschen. Ich werde diesen Hurensöhnen die Köpfe wegpusten. Wisst ihr eigentlich, wie gut ihr es habt, von einem Mann beschützt zu werden, dem nicht einmal der Shaitan Angst einjagen könnte?«
Er blickte zu Boden und sah das Kind vor seinen Füßen. »Verzieh dich!«, blaffte er und fuchtelte verscheuchend mit der Pistole. »Lass mich in Frieden und hör auf, mir deine Pratzen entgegenzustrecken. Ich heb dich nicht auf. Verschwinde. Verschwinde, bevor ich auf dich trete.«
Aziza schreckte zusammen. Verängstigt krabbelte sie auf Mariam zu. Auf ihren Schoß zurückgekehrt, steckte sie den Daumen in den Mund und beobachtete Raschid mit verstörter Miene. Manchmal blickte sie zu Mariam auf, wie um sich von ihr rückversichern zu lassen.
Doch was Väter anbelangte, konnte Mariam ihr keine Sicherheit bieten.
Als die Kämpfe nachließen, war Mariam vor allem darüber erleichtert, dass Raschid wieder seiner Arbeit nachgehen konnte und nicht länger den Hausfrieden störte.
In diesem Winter erbot sich Laila eines Tages, Mariam die Haare zu flechten.
Mariam saß auf einem Stuhl und schaute im Spiegel dabei zu, wie Laila ihr mit schlanken Fingern und konzentrierter Miene die Haare teilte und feste Zöpfe flocht. Aziza lag zusammengerollt auf dem Boden und schlief, im Arm eine Puppe, die Mariam ihr genäht und mit Bohnen ausgestopft hatte. Sie trug ein im Teesud gefärbtes Kleid und eine Kette aus leeren kleinen Garnspulen.
Als Aziza im Schlaf pupste, fing Laila zu lachen an, und Mariam stimmte mit ein. Lachend betrachteten sie einander im Spiegel, was sie immer mehr erheiterte, so dass schließlich ihre Augen tränten. Dieser Moment war so unbeschwert und natürlich, dass Mariam plötzlich und wie selbstverständlich von früher zu erzählen anfing, von Jalil, Nana und dem Dschinn. Laila stand reglos hinter ihr, die Augen auf Mariams Spiegelbild gerichtet. Sie sah die Worte heraussprudeln wie Blut aus einer geöffneten Arterie. Mariam erzählte von Bibi jo, Mullah Faizullah, den Demütigungen in Jalils Haus und von Nanas Selbstmord. Sie berichtete von Jalils Frauen, der überstürzten nikka mit Raschid, der Reise nach Kabul, ihren Schwangerschaften, dem endlosen Kreis von Hoffnung und Enttäuschung und Raschids Übergriffen.
Danach setzte sich Laila vor Mariams Stuhl auf den Boden. Selbstvergessen zupfte sie eine Fluse aus Azizas Haar.
»Ich habe dir auch etwas zu erzählen«, sagte Laila nach langem Schweigen.
In dieser Nacht fand Mariam keinen Schlaf. Sie saß auf ihrem Bett und beobachtete das lautlose Schneegestöber vor dem Fenster.
Eine Jahreszeit war auf die andere gefolgt; in Kabul waren Präsidenten vereidigt und ermordet worden; ein Großreich zerfiel; alte Kriege waren zu Ende gegangen, neue ausgebrochen. Doch von alldem hatte Mariam kaum Notiz genommen. Es war ihr einerlei gewesen. Sie hatte die Jahre in trister Abgeschiedenheit verbracht, wunsch- und klaglos, jenseits von Träumen und Enttäuschungen. Die Zukunft zählte nicht, und die Vergangenheit hatte ihr nur diese eine Einsicht hinterlassen: dass die Liebe ein gefährlicher Fehler ist und ihre Komplizin, die Hoffnung, eine trügerische Illusion. Und wann
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