Tausendschön
hinüber. Dieses verdammte Sommerhaus, in dem alles Unglück und alle Tragik ihren Ursprung hatten! Stumme Nervosität mischte sich mit dem kalten Abend. Alex blinzelte und wusste, dass die anderen das Gleiche dachten: Wenn zwei Personen durch das Fenster gesehen werden konnten, wer war dann die dritte, die dem Schuss zum Opfer gefallen war?
Johanna betrachtete den schlaffen Körper ihrer Schwester. Die Blutlache unter ihr wurde langsam größer. Sie streckte eine Hand aus und schaltete das Deckenlicht aus.
» Danke«, flüsterte sie und strich Viggo über den Arm.
Er stand wie versteinert neben ihr.
» Du hast das einzig Richtige getan«, sagte Johanna leise. » Und das weißt du auch.«
Sie folgte seinem Blick hinaus in die Finsternis, die von den Blaulichtern der geparkten Polizeiautos durchbrochen wurde und wo dunkle Körper sich über den Schnee bewegten.
» Wir kommen nicht mehr weg«, stellte er fest.
Sie sah unentschlossen aus, doch nur kurz. » Es gibt auch keinen Ort mehr, wo wir hingehen könnten.«
Langsam drehte er sich zu ihr um. » Und was tun wir jetzt?«
» Wir tun, was nötig ist.«
Sie ging in die Knie und nahm das Gewehr auf, das Viggo auf dem Boden abgelegt hatte. Blind vor Naivität und vom Glauben beseelt, in Johanna die Frau gefunden zu haben, die ihn liebte, reagierte er nicht, selbst als sie die Mündung der Waffe auf ihn richtete.
» Mich hast du nie so geliebt wie sie«, sagte Johanna noch mit leerer Stimme, bevor sie den Abzug drückte und ihm in die Brust schoss.
Eine Sekunde lang stand sie still und starrte auf seinen verletzten Körper. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
Müde warf sie das Gewehr von sich.
Und rannte auf die Veranda. » Hilfe!«, rief sie den Polizisten entgegen. » Helfen Sie mir! Er hat meine Schwester erschossen!«
Ragnar Vinterman hatte schon einige Stunden, bevor die Polizei an seiner Tür klingelte, begriffen, dass alles aus war. Im Grunde empfand er nichts als Erleichterung. Es war so vieles so schrecklich falsch gelaufen. So viele Menschen hatten für seine Gier und die der anderen mit dem Leben bezahlen müssen.
Die Wahrheit war, dass er niemals die naiven Vorstellungen von Jakob Ahlbin über die Menschen, die Flüchtlinge genannt wurden und die nach Schweden kommen wollten, geteilt hatte. Er hatte nicht im Geringsten das Gefühl gehabt, notleidende Menschen auszunutzen, wenn er ihnen zunächst gegen Bezahlung Essen und Unterkunft besorgte, und auch nicht, als er später die Idee hatte, die Tätigkeit auszuweiten.
Wenigstens hatte er diese Gedanken nicht von Anfang an gehabt. Schließlich hatten alle den Preis, den er verlangt hatte, bezahlen können. So musste doch keiner der Beteiligten ein schlechtes Gewissen haben.
Aber dann hatte Sven sich geweigert, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Schon da hatte Ragnar den ersten Anflug von Zweifel verspürt. Im Gegensatz zu Jakob konnte man Sven nicht einfach als gefühlsduselig und irrational abtun. Sven war ein gediegener Mensch, dessen größtes Problem war, dass sein Sohn ihm derart große Summen Geldes abknöpfte, dass er zu kriminellen Handlungen gezwungen war, um seine eigene Existenz zu retten. Doch im Grunde genommen besaß er ein gutes Einschätzungsvermögen, und deshalb verunsicherte es Ragnar Vinterman, als Sven Ljung offen erklärte, er habe jetzt genug.
Das Problem waren Marja und Johanna. Zwar hatte Vinterman darüber nachgedacht, wie die beiden Frauen sich so gründlich von Jakobs Grundwerten hatten verabschieden können, auf die man sich doch zuvor geeinigt hatte. Wenn die beiden kein Problem mit der Organisation hatten, warum sollte er, Ragnar, dann zweifeln?
Er hatte ein einziges Mal versucht, die Dinge mit Marja zu diskutieren, doch seine Annäherung hatte sie nur belastet, und seinen Fragen war sie ausgewichen. Ihre einzige Bedingung war, dass Jakob unter keinen Umständen erfahren durfte, was vor sich ging. So war alles gut gegangen, bis einer der sorgfältig ausgewählten Flüchtlinge, die Johanna Tausendschönchen nannte, gegen ihre wichtigste Regel verstieß und von seiner Reise nach Schweden erzählte.
Da ist uns die Sache entglitten, dachte Ragnar verzweifelt. Da wurden wir zu Mördern.
Es hatte nicht länger als ein halbes Jahr gedauert. Während es einfach gewesen war, ein Netzwerk aufzubauen, das Geld einbrachte, indem sie Flüchtlinge versteckten, war es schwerer gewesen, Strukturen aufzubauen, um die Menschen illegal nach Schweden zu bringen, sie ausgefeilte Verbrechen
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