Taylor Jackson 01 - Poesie des Todes
und Stille senkte sich über das Innere des Wagens; beide Männer versanken in ihren Gedanken.
Binnen einer Stunde hatten sie ihr Ziel erreicht. Erstaunlicherweise hatte in Atlanta kaum Verkehr geherrscht, und als sie den Abzweig zur I-75 nahmen, fanden sie ohne Probleme die Abfahrt nach Adairsville. Der Wagen schoss die Abfahrt hinunter, und während sie nach Westen in Richtung Stadtzentrum fuhren, wies Grimes auf den Fundort der Leiche hin. Nicht, dass Baldwin ihn hätte übersehen können. Übertragungswagen säumten die rechte Seite des Highways, ihre Kameras auf das provisorisch errichtete Zelt gerichtet.
Baldwin schüttelte bei dem Anblick den Kopf. Sie hatten es geschafft, die Geschichte in Alabama und Louisiana bedeckt zu halten, aber es sah nicht so aus, als ob ihnen das hier auch gelingen würde. Im Kopf entwarf er eine Strategie, in der sie die Medien für ihre Zwecke nutzen könnten.
Grimes setzte Baldwin vor einem kleinen, anonymen Bürogebäude ab und versprach wiederzukommen, sobald er eine Übernachtungsmöglichkeit für sie arrangiert hätte. Baldwin hatte Verständnis für ihn. Nicht viele Menschen hatten Lust, einer Autopsie beizuwohnen. Ein junger Mann, der aussah, als sei er gerade erst seinen Teenagerjahren entwachsen, begrüßte ihn in der Lobby. Er stellte sich als Arie vor und brachte Baldwin in den Autopsietrakt des Gebäudes. Arie reichte ihm einen Kittel und Handschuhe, dann setzte er sich auf einen Stuhl neben einem Tisch und nahm sein Notizbuch in die Hand. Baldwin betrat den Raum und sah das tote Mädchen.
Shauna Lyn Davidson war nicht gerade sanft zur Ruhe gebettet worden.
Ihre Leiche lag auf einem Seziertisch aus rostfreiem Edelstahl. Ihr Kopf wurde von einem Plastik-U gehalten. Sie hatte blaue Flecken auf dem Gesicht, auf dem Körper. An der rechten Kopfseite fehlte ein großes Büschel Haare. Ihre Nase war verunstaltet, ihre Lippen gesprungen. Alle Anzeichen deuteten auf einen Kampf hin. Shauna war übel zusammengeschlagen worden – eine Abweichung von den vorherigen Morden. Er überlegte einen kurzen Moment – ein anderer MO konnte bedeuten, dass sie es auch mit einem anderen Mörder zu tun hatten. Normalerweise würde Baldwin sich jetzt die Hände anschauen, um zu sehen, in was für einem Zustand sie sich befanden. In diesem Fall war jedoch alles, was er sehen konnte, die blutigen Stümpfe. Definitiv der gleiche Verdächtige.
Der Gerichtsmediziner war ein jovialer Mann, der das Rentenalter schon um mindestens zehn Jahre überschritten hatte. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung, seine Haare weiß und strähnig, die Hose zwei Nummern zu klein für seinen Bauchumfang. Er sah nicht so aus, als ob er allzu viele Mahlzeiten verpassen würde. Er zog sich einen Handschuh aus und streckte Baldwin die Hand hin. Baldwin nahm sie, erstaunt über den kräftigen Händedruck.
“Ich bin Doc Allen. Tut mir leid, dass Sie den ganzen Weg hierherkommen mussten. Wir sind bereit für die Untersuchung, sobald Sie es sind. Eigentlich haben wir sogar schon angefangen, nur mit dem ersten Schnitt haben wir auf Sie gewartet. Alles bereit? Gut. Arie, du schreibst mit?”
Der picklige Junge nickte. Es war an der Zeit, die Toten zu ehren.
Autopsien standen auf Baldwins Liste seiner Lieblingsaktivitäten nicht sehr weit oben. Aber er hielt sie durch, hörte mit einem Ohr, was Doc Allen vor sich hin murmelte. Nur jeder dritte oder vierte Satz hatte etwas mit der Leiche zu tun, die er untersuchte.
“Also, Sie sind von Tennessee, hab ich gehört. Mögen Sie es da oben? Ich war da mal in der Grand Ole Opry, der Radioshow, wissen Sie, oh, schau einer an, ein gebrochenes Zungenbein. Müssen starke Hände gewesen sein, die das getan haben. Wie auch immer, ich hab die Opry besucht, da ist Marty Stuart aufgetreten. Hatte ja keine Ahnung, wie klein der ist. Hat mich andererseits aber auch nicht überrascht. Viele dieser Leute sind tatsächlich kleiner, als man denkt. Das sind definitiv Sägespuren hier an Elle und Speiche. Ich denke, eine glatte Klinge, vielleicht sogar ein Skalpell. Direkt hier über dem Radiokarpalgelenk getrennt. Also, wir sind in dieses Lokal gegangen, das Loveless Café …”
Baldwin blendete ihn aus. Er brauchte Hintergrundinformationen über Shauna, damit er versuchen konnte, herauszufinden, wieso sie das vierte Opfer des Stranglers geworden war.
Doc Allen kam langsam zum Ende. Shaunas Gehirn war entfernt und entsprechend vorbereitet worden, um in Formalin konserviert zu werden.
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