Taylor Jackson 01 - Poesie des Todes
Pedale zu treten.
Der Gedanke an die Suppe ihres Vaters brachte weitere Erinnerungen zutage. Als sie fuhr, erinnerte sie sich an den Kompromiss, auf den sie sich mit ihrem Vater geeinigt hatte. Giovanni war ein ernster Mann, hart arbeitend und streng. Er war mit seiner Familie aus dem kleinen Bergdorf Sestiere in Italien nach Amerika emigriert, damit seine sechs Kinder amerikanische Colleges besuchen konnten. Noelle war sein jüngstes Kind, die Letzte, die zum College ging. Sie wollte Klimakunde in Colorado studieren, in dem größten Gebirge des Landes Ski und Mountainbike fahren. Giovanni fand, dass Colorado zu weit weg sei. Nachdem Noelle das Institut für atmosphärische Wissenschaften an der University of North Carolina gefunden hatte, waren sie zu einem Kompromiss gelangt – Asheville. Hier hatte sie die Berge und Giovanni seinen Seelenfrieden, da sie nur wenige Stunden von zu Hause entfernt war, nicht eine dreitägige Autofahrt.
Für die stille, ernsthafte Noelle war die Universität von Asheville wie ein wahr gewordener Traum. Sie liebte die Leiter ihres Fachbereichs, ihre Mitbewohnerin und die gesamte Stimmung auf dem Campus. Sie war dem Radclub beigetreten und hatte viele Freunde gefunden. Sie fand sogar eine Gruppe katholischer Studenten, die außerhalb des Campus die Kirche besuchten, und begleitete sie, sooft es ihr möglich war. Jetzt, in ihrem zweiten Studienjahr, fühlte sie sich hier richtig zu Hause. An Aufmerksamkeit seitens der männlichen Studenten mangelte es ihr ebenfalls nicht. Sie war knapp eins siebzig groß, fünfundfünfzig Kilogramm schwer und sportlich gebaut, mit glänzendem braunen Haar und seelenvollen braunen Augen. Aber sie war die Tochter ihres Vaters und scheute vor offiziellen Rendezvous zurück, weil das sein Wunsch war. Es störte sie nicht, sie hatte ausreichend für ihr Studium zu tun, und Verabredungen standen auf ihrer Prioritätenliste nicht sehr weit oben.
Sie fuhr durch das Tor des Universitätsgeländes, rollte über den Campus und hielt vor ihrem Wohnheim an. West Ridge Hall. Am Fahrradständer schloss sie ihr Rad an und ging ins Haus. Niesend fragte sie sich auf dem Weg über den Flur in ihr Zimmer, ob sie ihre Teilnahme an der Studiengruppe für den Klimakundekurs nicht doch absagen sollte. Sie kam an ihre Tür, schloss auf und trat ein. Ihre Mitbewohnerin und sie ließen die Jalousien immer geöffnet, weil ihr Fenster einen herrlichen Blick auf die Berge bot und sie beide es liebten, auf dem Bett zu liegen und die Aussicht zu genießen. Noelle stellte ihren Rucksack auf den Boden und streckte sich auf ihrem großen Doppelbett aus.
Oh, das fühlte sich gut an. Sie wusste, dass sie jetzt eigentlich aufstehen und losgehen müsste. Krank zu sein war keine Entschuldigung, die Studiengruppe sausen zu lassen. Also richtete sie sich mühsam wieder auf, schlüpfte in eine Jacke, schnappte sich ihre Bücher und machte sich auf den Weg aus ihrem gemütlichen Zimmer rüber in die Bibliothek.
Die Ramsey Library stand in der Mitte des Campus, und der Spaziergang dahin fühlte sich gut an. Körperliche Betätigung war schon immer Noelles Kur gegen alle möglichen Wehwehchen gewesen, sodass ein kurzer Gang zur Bibliothek sicher nicht schadete. Sie ging über stille Fußwege, winkte Leuten, die sie kannte, und ging schließlich in die Bibliothek und zu ihrer Gruppe.
Dort arbeiteten sie dann ein paar Stunden, und Noelle begann sich wirklich fürchterlich zu fühlen. Gerade als sie entschieden hatten, eine Pause einzulegen, klingelte ihr Handy. Noelle entschuldigte sich und ging zum Seiteneingang des Gebäudes. Sie hasste es, bei einem Gruppentreffen zu telefonieren, und fand es unhöflich, wenn Leute es in Restaurants oder Supermärkten taten. Also nahm sie Rücksicht auf ihre Mitstudenten – außerdem konnte sie etwas frische Luft gut gebrauchen.
Es war eine Freundin aus dem Radclub, die fragte, ob sie am Morgen zusammen fahren wollten. So gerne sie es auch getan hätte, schlug sie das Angebot doch aus. Bis sie mit ihren Antibiotika durch war, wäre es nicht klug, sich zu viel zuzumuten. Sie plauderten noch eine Weile, Noelle trat nach draußen und setzte sich auf die Stufen. Es war inzwischen stockfinster, und als sie das Telefonat beendete, meinte sie, einen Schatten an der Seite des Gebäudes zu sehen. Sie schüttelte den Gedanken ab; es waren so viele Menschen auf dem Campus, jeder konnte da gerade um die Ecke gegangen sein. Trotzdem fand sie, dass es eine gute Idee
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