Taylor Jackson 02 - Der Schneewittchenmörder
hier war der Ordner, den er ihr vor seinem Tod hatte geben wollen. Nachdem sie ein paar Latexhandschuhe übergestreift hatte, nahm Taylor den Hefter in die Hand.
„Warum grinsen Sie von einem Ohr zum anderen, Lieutenant?“
„Weil das hier, Miss Stella, das fehlende Puzzleteil ist. Danke vielmals, dass Sie es gefunden haben.“ Taylor hätte die Frau beinahe umarmt, aber Stella hob abwehrend die Hände.
„Ja, ich weiß, schon gut. Sie wollen mich nicht berühren, mein Kind, glauben Sie mir. Ich stinke. Und jetzt mach ich mich mal wieder an die Arbeit.“
Taylor ging direkt zu ihrem Auto und rief im Büro an. Marcus nahm den Anruf entgegen.
„Hey, sag mal, habt ihr Frank Richardsons letzte Bewegungen nachvollziehen können?“
„So in der Art. Wir haben sein Auto auf dem Parkplatz des Wohnblocks gefunden. Sein Handy lag noch in der Mittelkonsole, mit einer anonymen Nachricht auf der Mailbox. Der Anrufer wollte, dass Frank ihn in der Wohnung treffe. Also ist er da aus freien Stücken hineingegangen.“
„Ja, das klingt logisch. Ich habe gerade die Akte gefunden, die er uns übergeben wollte. Anscheinend ist er vor der Verabredung in die Wohnung gegangen und hat sie vorsichtshalber versteckt. Kluger Kerl. Er hat wohl gewusst, dass in seinen Unterlagen irgendetwas Großes verborgen ist. Danke, Marcus. Wir sehen uns gleich.“
Langsam fügten sich die Teile zusammen. Wenn sie jetzt nur noch die Identität des Schneewittchenkillers herausfinden könnte. In einem Winkel ihres Gehirns lauerte der letzte Fingerzeig – zusammengerollt wie eine Schlange, die darauf wartete, zuzuschlagen.
46. KAPITEL
Jane Macias erwachte. Ihr war kalt. Ein Riss in der Wand direkt neben dem Platz, wo sie lag, ließ kalte Luft von draußen herein. So eine Schlamperei hätte ihr Vater nie geduldet. Das Haus eines Mannes war unantastbar, war sein Wahlspruch. Und ein Mann von Format hatte eine gewisse Verantwortung. Zeige der Welt, wie sehr du dich um sie kümmerst, und im Gegenzug wird sie sich um dich kümmern.
Ihr Vater. Gott, sie vermisste ihn. Nie würde sie das Bild aus ihrem Gedächtnis löschen können, blass und zitternd auf dem harten, kalten Boden. Er war beinahe tot, das Licht in seinen Augen fast erloschen, als sie ihn fand. Sie hielt ihn und wiegte ihn in ihren Armen; sein Blut sickerte in den Stoff ihres Hemdes. Mit seinen Lippen formte er den Namen, kurz bevor er starb, gerade als die Rettungssanitäter erschienen und versuchen wollten, sein Leben zu retten. Es war zu spät, aber sie wusste alles, was sie wissen musste. Es zu beweisen war eine ganz andere Geschichte. Sie war beinahe so weit. Und jetzt wurde sie gefangen gehalten. Sie würde ihren Vater schon wieder im Stich lassen.
Dieser Mann, diese Kreatur, der sie gefangen hielt, würde sie bald töten, das fühlte sie. Das Katz-und-Maus-Spiel näherte sich dem Ende. Er war zu gebannt vom Fleisch und Blut ihres jungen Körpers, um sich Gedanken über die altersschwachen Steine des Dachbodens Gedanken zu machen, die kalte Luft in die kleine Mansarde ließen, wo sie ihr Dasein fristete. Es war besser als das Loch, in dem sie vorher gewesen war, ein Raum, der nach Sex und Blut roch. Sie war erleichtert gewesen, als man sie hierher gebracht hatte.
Das Monster, das über ihrem Körper gesabbert hatte, das mit seinen Lippen über ihren Hals gefahren und ihr versprochen hatte, ihr Leben zu nehmen, war fort.
Sie versuchte sich umzudrehen und stellte fest, dass die Fesseln wieder da waren, die ihre Hände und Füße wie in einem Schraubstock festhielten. Der Jüngere fesselte sie jede Nacht aufs Neue. Die letzten beiden Nächte war er gekommen, hatte sie losgebunden, die Treppe hinuntergetragen, weil ihre Beine aufgrund mangelnder Bewegung ganz taub waren, und sie in einen Stuhl in der Bibliothek der Kreatur gesetzt. Er nahm die Augenbinde immer erst ab, wenn er hinter ihr stand, sodass sie niemals sein Gesicht sah. Danach hatte er den Raum verlassen, und der Verkrüppelte hatte angefangen zu reden. Er erzählte ihr grauenhafte Geschichten, berichtete in allen Einzelheiten über das Sterben seiner Seele. Er berührte sie, war aber nicht in der Lage, sich selber zu befriedigen. Er zwang sie, ihn zu berühren, aber das half auch nicht.
Sie wusste, wer er war. Dieses gebeugte, missgebildete Ding war der Schneewittchenmörder.
Er war einmal zu ihr gekommen, alleine und schwitzend. Sie hatte seinen angestrengten Aufstieg die Treppe hinauf gehört, hatte mit angespannten
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