Tea-Bag
scheußliche Suppe, die uns die zahnlose, namenlose Frau hinstellte, und wurden dann wieder eingesperrt. Durch die Wand hörte ich Tatjana weinen. Ich glaube, wir alle weinten, aber es war nur Tatjana, die zu hören war. In dieser Nacht dachte ich: Wozu soll ich aufwachen? Warum schlafe ich nicht ein und versuche, da unten in der Tiefe meiner selbst zu bleiben, um nie wieder aufzuwachen? Zugleich merkte ich, wie langsam Zorn in mir aufstieg. Sollte Peter Ludorf, den wir für unseren Befreier gehalten hatten, der uns aber furchtbare Fesseln anlegte, sich als der Stärkere erweisen dürfen? Sollten wir zulassen, daß er uns besiegte?
Den Rest der Nacht saß ich nur da und wartete auf die Morgendämmerung. Ich hatte keinen anderen Gedanken als den, daß wir alle hinaus und weg mußten. Wir würden uns nicht in einem Bordell erniedrigen lassen, keine von uns war mehr Jungfrau, aber es war auch keine von uns bereit, sich zu verkaufen. Ich weiß, daß Tea-Bag es getan hat, sie war dazu gezwungen, aber wir würden uns freikämpfen, uns würde man nicht in abgetrennte, abgeschlagene Gliedmaßen verwandeln, aufbewahrt in einem Holzkasten auf einem Tisch in einem Zimmer mit Wänden aus rotem Plüsch, die aber eigentlich mit Blut getränkt waren. Aber als ich am Morgen den Schlüssel im Schloß hörte, war ich wie gelähmt.
Ich muß dir nicht erzählen, welche Übergriffe wir erleiden mußten. Ein halbes Jahr lang, jeden Morgen, stand ich an der Tür, bereit, zuzuschlagen. Aber ich konnte nicht, ich wagte es nicht. Ich brauchte sechs Monate, um genügend Mut zu sammeln, sechs Monate der vollkommenen, abgrundtiefen Erniedrigung.
Dann packte mich eines Nachts eine rasende Wut, von der ich nicht wußte, daß ich sie in mir trug. Ich schraubte zwei Beine von dem Bett ab. Sie waren aus Eisen. Mit einem Kopfkissenbezug schnürte ich sie zusammen und erhielt so die Waffe, mit der ich mich freikämpfen konnte. Und an diesem Morgen schlug ich zu.
Den Mann, der die Tür aufsperrte, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich schlug ihm mit aller Kraft auf den Kopf, das Blut spritzte nur so, ich löschte sein Leben mit einem einzigen Schlag aus. Dann riß ich die Schlüssel an mich und fing an, die anderen Türen aufzumachen. Es war, wie die Türen eines Horrorkabinetts zu öffnen. Tatjana hockte auf dem Boden, zusammengekauert, und starrte mich an. Ich herrschte sie an, sie solle mitkommen, wir würden abhauen, ich zerrte an ihr, aber sie rührte sich nicht. Ich öffnete die Tür von Inez’ Zimmer. Es war leer, bis ich begriff, daß sie sich unter dem Bett
versteckt hatte. Ich versuchte sie hervorzuziehen, ich flehte sie an, ich schlug ihr auf die Beine, aber sie hatte solche Angst, daß sie es nicht wagte hervorzukommen. Ich öffnete Natalias Tür, und sie war die einzige, die willens war, mich zu begleiten.
Wir beide taten alles, um die anderen zu bewegen, sich uns anzuschließen, wir schrien und zerrten an ihnen, aber vergebens. Dann konnten wir nicht länger warten. Wir hörten Stimmen auf der Treppe. Wir kletterten durch ein Fenster hinaus und sprangen auf ein Garagendach. Ich sprang als erste und dachte, Natalia wäre direkt hinter mir. Erst als ich nicht mehr laufen konnte, merkte ich, daß sie nicht da war. Vielleicht hatte sie sich verletzt, als sie auf dem Garagendach landete. Ich weiß es nicht.
Meistens gelingt es mir, den Schmerz von mir fernzuhalten, ihn zu kontrollieren, wie man ein unruhiges Pferd am Zügel hält. Manchmal geht es nicht mehr. Dann rieche ich an den Duftblöcken in den Pissoirs der Männer und wünsche, Peter Ludorf wäre tot und meine Freundinnen frei. In den Träumen sehe ich, wie wir an der lehmigen Straße vor Smolensk stehen, in viel zu kurzen Röcken, und auf dieses Auto warten, das uns die Freiheit schenken sollte, uns aber statt dessen in eine abgrundtiefe Finsternis brachte. Eine Finsternis, durch die ich mich noch immer vorantaste.«
Tanja verstummte.
Ich muß sie nach Irina fragen, dachte Jesper Humlin. Aber nicht jetzt. Das ist eine Frage, die warten muß. Eine Frage, die außerhalb der Zeit liegt und nur sehr langsam heranreift.
Tanja nahm eins ihrer Mobiltelefone heraus und tippte eine Nummer ein. Plötzlich meinte Jesper Humlin die ferne Melodie eines Wiegenliedes zu hören, an einem für ihn unsichtbaren Ort, an dem eine Pennerin schlief, den Kopf gegen einen Grabstein gelehnt.
Dessen Inschrift längst verwittert war.
19
N ach dem langen Gespräch auf dem Friedhof erledigten
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