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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Ich erinnere mich an meine Kindheit, da gab es einen kleinen Tümpel im Wald, ganz schwarz, der zwischen hohen Bäumen brütete. Da ging ich immer hin, wenn ich traurig war, und dachte, das Wasser, das spiegelblank und unbewegt war, das bin ich. Ein großer Friede, sonst nichts. Ich brauche diese Stille.
    Tanja verstummte und fing an, in ihrem Rucksack zu wühlen. Jesper Humlin zählte sieben verschiedene Telefone, die sie auf die Bank legte. Schließlich fand sie, wonach sie

suchte, eine zerdrückte Schachtel Zigaretten. Er hatte sie noch nie zuvor rauchen gesehen. Sie sog den Rauch ein, als sei es Sauerstoff für ihre Lungen. Genauso plötzlich wie sie zu rauchen angefangen hatte, ließ sie die Zigarette in den Kies fallen und trat sie mit dem Absatz aus.
    »Was ich am wenigsten verstehe, die Frage, die mich bis zum Jüngsten Tag begleiten soll und die ich nicht einmal loslassen möchte, wenn ich sterbe, das ist die Frage, wie es trotz allem eine Freude in dieser Hölle geben konnte, durch die ich gegangen bin. Oder vielleicht war es keine Hölle? Gestern, als wir im Bett des Polizeipräsidenten lagen, sagte Tea-Bag: >Dir ist es nicht schlimmer ergangen als anderen auch.< Und dann ist sie eingeschlafen. Vielleicht ist es so? Ich weiß es nicht. Aber ich verstehe nicht, wie es mir, inmitten dieser Erniedrigung, möglich war zu lachen. Ich glaube, wir haben das Bedürfnis, eine ganz einfache und unkomplizierte Freude zu empfinden, da wir so ungeheuer lange tot sein werden. Ich glaube nicht, daß der Tod selbst erschreckend ist, das Erlöschen, sondern eben das Wissen, daß wir eine so unfaßbar lange Zeit tot sein werden.
    Manchmal denke ich noch an das eine Mal vor vier Jahren, als wir an der Landstraße standen, vier Mädchen in viel zu kurzen Röcken. Wir waren der Osten. Sonst nichts. Wir wußten ja, wie man uns im Westen betrachtete. Wir waren die armen Luder aus dem Osten. Wir standen da, in unseren kurzen Röcken, mitten im Winter, mitten in der Armut und dem Elend, in diesem ganzen nach Wodka stinkenden Morast, der übriggeblieben war, als der Zusammenbruch kam; vier Mädchen, vierzehn, sechzehn, siebzehn und neunzehn Jahre alt, die Älteste war natürlich ich, und wir lachten wie verrückt da in der Kälte, wir waren glücklich, kannst du dir das vorstellen? Weil wir drauf und dran waren, uns zu befreien! Als das alte rostige Auto kam, hätte es nicht phantastischer

sein können, wenn Jesus oder Buddha oder Mohammed aus den Wolken herabgestiegen wäre. Mit Hilfe dieser alten Karre, die nach Schimmel und ungewaschenen Füßen roch, würden wir uns frei machen!
    Warum brechen Menschen auf? Warum zieht man seine Wurzeln aus der Erde? Man kann verjagt, vertrieben, auf der Flucht bedroht werden. Es kann Krieg und Hunger und Angst herrschen, immer die Angst. Aber man kann die Flucht auch wählen, weil sie klug ist. Ein halbwüchsiges Mädchen kann genausogut wie ein heiliger Patriarch die Frage beantworten: Wo kann ich ein Leben finden, das mich von allem wegführt, was ich verabscheue?
    Auf einem Feld hinter Misjas Häuschen lag eine verlassene Scheune, Misja, der alt und verrückt und ein bißchen gefährlich war. Da trafen wir uns oft, Inez, Tatjana, Natalia und ich. Wir kannten einander schon so lange, daß wir nicht mehr wußten, wie wir uns kennengelernt hatten. In dieser Scheune hielten wir Gericht. Inez hatte ein paar Taue von den Schleppkähnen gestohlen, die den Fluß hinauf und hinunter fuhren. Sie war verrückt, sie war mit einem Messer zwischen den Lahnen in dem kalten Wasser hinausgeschwommen und hatte ein paar Taue abgeschnitten, die sie sich an die Beine gebunden und an Land gezogen hatte. Wir knüpften Schlaufen, Natalia hatte einen Bruder, der beim KGB gewesen war, er wußte, wie man einen richtigen Henkersknoten macht. Dann hängten wir alle unsere Feinde auf. Wir stopften Stroh und Steine in Säcke, verkündeten Urteile und erhängten sie an einem Dachbalken. Wir richteten unsere Lehrer und Eltern hin, Tatjanas Vater, der bösartig war und sie oft schlug, erhängten wir mindestens einmal pro Woche. Ich glaube, wir dachten eigentlich nie darüber nach, was wir da taten. Es gab nur Leben und Tod, Strafe und Gnade. Aber keiner fand Gnade, denn keiner verdiente es.

Wir waren vier Mordengel in dieser kleinen Ortschaft außerhalb von Smolensk, wir hatten uns sogar einen Namen gegeben, >Die Slumratten<. So sahen wir uns selber.
    Unterirdische Geschöpfe, ohne Wert, von allen gejagt, von

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