Tea-Bag
Selbstverachtung erfüllt. Aber wir hielten nicht nur Gericht, wir beteten in dieser Scheune auch zu unseren eigenen Göttern. Inez hatte ihrem Stiefvater ein Buch geklaut, ein Buch mit Fotos von großen Städten in Amerika und Westeuropa. Inez klaute damals alles, sie war es, die mir das Stehlen beibrachte, nicht mein Vater; als ich das sagte, habe ich gelogen, mein Vater war ein armer Teufel, der es nicht einmal geschafft hätte, das Schloß an einem Fahrrad aufzubrechen. Inez hatte nicht einmal Angst davor, in Kirchen einzudringen und Ikonenrahmen zu stehlen. Wir rissen Fotos aus dem Buch, steckten sie in die Rahmen, hängten die Bilder auf und verrichteten unsere Gebete. Wir baten darum, einmal im Leben unseren Fuß in diese Städte setzen zu dürfen. Damit niemand die Bilder stahl, vergruben wir sie in einer Ecke der Scheune, wo der Holzboden vermodert war.
Ich weiß immer noch nicht, wer von uns schließlich diese Worte sagte, die den Anstoß für die Reise der Slumratten gab. Vielleicht war ich es, vermutlich war es so, da ich die Älteste war. Wir saßen in dieser Scheune und träumten uns weg. Rings um uns herum sahen wir nichts als Hoffnungslosigkeit. Die Grenzen waren gefallen, aber für uns bestanden sie nach wie vor. Der Unterschied war nur, daß wir sehen konnten, was es auf der anderen Seite gab. Es lag da und wartete auf uns, das reiche Leben. Aber wie sollten wir uns aufmachen? Wie sollten wir diese unsichtbare Grenze überwinden? Wir haßten das Gefühl des Eingesperrtseins, wir fuhren fort, unsere Feinde ums Leben zu bringen. Wir gewöhnten uns an, alles einzuwerfen, was uns zwischen die Finger geriet. Keine von uns ging zur Schule, keine von uns hatte eine Arbeit. Inez lernte mich an, ich begleitete sie, wenn sie Einbrüche machte oder
den Leuten Sachen aus der Tasche zog. Immer wieder machten wir den Versuch zu sparen, um abhauen zu können. Aber stets verschwand das Geld, wir kauften Drogen und Kleider und fingen dann wieder an zu sparen. Ich glaube, in diesen Jahren war ich kein einziges Mal klar im Kopf, ich war immer zugedröhnt.
Wer von uns von dem >Fäustling< gehört hatte, weiß ich nicht. Ich glaube, es war Inez, aber ich bin mir nicht sicher. Es hieß, er könne Mädchen gutbezahlte Jobs im Westen vermitteln. Wenn sie gut aussahen, wenn sie unabhängig waren, wenn sie Lust auf Abenteuer hatten. Er wohnte in einem Hotel in der Stadt, er würde nur zwei Tage bleiben. Wir entschieden uns sofort, zogen unsere besten Sachen an, schminkten uns, steckten Tuben mit Klebstoff in die Taschen und fuhren hin. Im Bus inhalierten wir die Dämpfe von dem Klebstoff, und Tatjana mußte sich übergeben, bevor wir ins Hotel gingen. Der Mann, der uns in sein Zimmer einließ, ich erinnere mich noch, daß es die Nummer 345 war, trug tatsächlich weiße Fäustlinge an den Händen. Später sagte jemand, er litte an Ekzemen, die Handschuhe seien innen mit einer Salbe getränkt. Er versprach uns Arbeit in einem Restaurant in Tallinn. Wir sollten kellnern und wir würden gute Löhne bekommen, ganz zu schweigen von dem vielen Trinkgeld. Er erzählte, was die Mädchen, die dort arbeiteten, pro Tag verdienten, und es klang, als würden wir in zwei Stunden einen ganzen Monatslohn zusammenbekommen. Es war ein Restaurant, in das nur feine ausländische Gäste kamen, Westler und mitunter sogar Amerikaner, und wir würden uns eine große Wohnung teilen.
Wir hörten zu und sahen ihn an. Die Fäustlinge waren weiß, aus ganz normaler Wolle. Aber sein Anzug war teuer, und er lächelte fortwährend, er sagte, er hieße Peter Ludorf und l ieß ab und zu ein deutsches Wort einfließen, um zu zeigen, daß er nicht irgendwer war. Er schrieb unsere Namen auf einen
kleinen Notizblock. Dann tauchte plötzlich ein anderer Mann in dem Zimmer auf, wie er hieß oder wie er sich nannte, weiß ich nicht. Aber ich glaube, ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich auf so leisen Sohlen bewegt. Mir laufen immer noch kalte Schauer den Rücken hinunter, wenn ich an ihn denke. Er machte Fotos von uns und verschwand wieder. Dann war es vorbei.
Ein paar Wochen später standen wir in unseren kurzen Röcken da draußen auf der Landstraße, mitten im Winter, und warteten auf Peter Ludorfs Auto. Aber es waren unrasierte, nach Wodka stinkende Männer, die uns abholten. Unterwegs machten wir an mehreren Stellen halt, die Männer am Steuer wurden ausgewechselt, wir bekamen fast nichts zu essen, nur Wasser, und wir mußten eilig in den Schnee
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