Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
dass die Wucherungen durch die starke Beanspruchung wiederkommen werden. Und dann haben Sie vielleicht schon in einem halben Jahr dasselbe Problem. Und wie gesagt, ein Abbrechen der Splitter sollten Sie auf jeden Fall verhindern, da dadurch Gefäße verletzt werden und starke Blutungen im Bein entstehen können.“
Jack antwortete nicht. Davon hatte Dr. Gold nichts gesagt. Der hatte nur vorsichtig angedeutet, dass der Bruch die normale Funktion seines Beines einschränken würde. Er hatte sich vielleicht nicht getraut, ihn mit der vollen Wahrheit zu konfrontieren.
„Es tut mir wirklich leid, Jack“, ergänzte Benoit seine Diagnose. „Sie können versuchen, weiterhin Hochleistungssport zu betreiben, aber ich denke, Sie würden sich nur quälen.“
„Gesetzt den Fall, ich lasse mich operieren: Wie lange würde es dauern, bis ich nach der Operation mit dem Training beginnen könnte?“
„Vielleicht drei Monate, möglicherweise ein halbes Jahr, aber vielleicht auch länger. Wenn Sie den geschädigten Muskel anfänglich zu sehr belasten, wird er es Ihnen nicht danken, im Gegenteil. Sie müssten ganz langsam anfangen, ihn sozusagen komplett neu aufbauen. Das kostet viel Zeit.“
Jack schloss die Augen. Dieses Jahr, die Weltmeisterschaft, die ISTAF, das konnte er alles vergessen, definitiv. Vielleicht war er im nächsten Jahr wieder einsatzbereit, aber vermutlich nicht, wie ihm dieser Doktor Benoit mitteilte. Wenn die Wucherungen wiederkamen, ging alles von vorne los. In ein paar Jahren wurde er dreißig, dann war er sowieso nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Enttäuschung legte sich wie ein Bleigewicht auf sein Herz und seine Seele.
„Danke für Ihre ehrliche Meinung“, sagte er heiser.
„Ich hoffe, Sie haben noch einen anderen Grund, hier in Paris zu sein, einen schöneren, nicht nur meine Diagnose“, versuchte der Arzt ihn auf angenehmere Gedanken zu bringen, doch Jack winkte ab.
„Ich musste einen Vertrag mit einer Frauenzeitschrift und mit einer Werbefirma unterzeichnen. Außerdem habe ich mich in einer Internet-Quiz-Show bis auf die Knochen blamiert. Nein, mein Aufenthalt hier war insgesamt nicht sonderlich erfreulich.“
„In Zukunft können Sie sich mehr um solche Ereignisse kümmern, falls Sie das etwas tröstet.“
„Nein, das tröstet mich gar nicht. Es interessiert mich nicht, bei irgendwelchen Shows oder Präsentationen im Mittelpunkt zu stehen. Ich mache es nur, weil ich es muss, weil mein Manager das entscheidet, oder mein Vater. Das Einzige, was mich wirklich interessiert und mir Spaß macht, ist der Sport. Aber damit ist es wohl nun wirklich vorbei.“
Er hinkte zur Tür, drehte sich jedoch noch einmal um. „Führen Sie diese Operationen, die Sie beschrieben haben, selbst durch?“
Der Mann nickte. „Im Krankenhaus, in dem ich arbeite.“ Er schmunzelte. „Aber das kann jeder andere halbwegs gute Chirurg. Dafür brauchen Sie mich nicht.“
„Ich will aber Sie.“
„Dann rufen Sie mich an.“
Mit gesenktem Kopf verließ Jack den Raum und hinkte hinaus in den trostlosen, heruntergekommenen Pariser Vorort. Während seiner Schritte, die ihm wieder Schmerzen bereiteten, sah er vor seinem inneren Auge seine Zukunft wie eine graue und freudlose Sequenz vorüberziehen. Was sollte er machen, wenn er nicht mehr Sport treiben durfte? Womit würde er seinen Lebensunterhalt verdienen? Was würde er den lieben langen Tag treiben? Er hatte keinen Beruf gelernt, keine andere Leidenschaft als den Sport gepflegt.
Als er das Getümmel des Marktes erreicht hatte, spürte er das Vibrieren seines Telefons in der Hosentasche. Er nahm es heraus und sah auf das Display. Seine Freundin Lori rief an.
Er hatte keine Kraft, jetzt mit ihr zu sprechen und ihr seine Niederlage zu erklären. Die Enttäuschung über die Diagnose schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte im Augenblick nicht reden. Mit niemandem.
Er drückte das Gespräch weg und wollte das Gerät zurückstecken, da begann es erneut zu klingeln – und wollte einfach nicht aufhören. Lori blieb hartnäckig. Entnervt, verbittert und in einem Anfall von Verzweiflung warf er das Handy an die Wand einer baufälligen Garage, wo es in tausend Teile zerschellte.
XI
Das Klingeln des Telefons aus dem Büro von Aaron Logan drang bis auf den Flur. Kiara lauschte, ob er den Anruf beantwortete, aber das Geräusch verstummte nicht. Erst nach mehrmaligem Klingeln gab der frühe Anrufer auf.
Eigentlich hatte es keinen Zweck zu klopfen. Der Chef befand
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