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Tempus (German Edition)

Tempus (German Edition)

Titel: Tempus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maud Schwarz
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ich überlebte die Unterrichtsstunde. Genauso wie die nächste und die übernächste. Danach fuhr ich wie üblich direkt mit dem Bus nach Hause. Was hätte ich auch sonst machen sollen? Ohne meine Eltern zu begrüßen, eilte ich in mein Zimmer, zog die Gardinen zu, setzte mich auf den Boden mit dem Rücken an die Heizung und starrte vor mich hin. Apathisch nannte Hedda mein Verhalten.
    Kurz darauf begann das übliche Ritual. Hedda klopfte an die Tür und steckte den Kopf um die Ecke.
    »Wie war es in der Schule?«
    »Okay«, murmelte ich.
    »Hast du Hausaufgaben auf?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Warum gehst du nicht ein wenig raus? Das Wetter ist schön. Triff dich doch mit Schulfreunden!«
    »Keine Lust.«
    »Warum nicht?« Hedda musste immer alles ganz genau wissen.
    Ich zuckte nur mit den Achseln.
    »Kommst du nachher wenigstens zum Essen runter?«
    »Keinen Hunger«, erwiderte ich.
    »Das kannst du doch jetzt noch gar nicht wissen.«
    Ich reagierte nicht. Hedda verschwand und Erik erschien erwartungsgemäß.
    »Elina, wollen wir morgen zusammen in die Stadt fahren und ein bisschen shoppen? Du kannst dir was Schönes aussuchen. Ich bezahle. Wir könnten hinterher auch essen gehen. Beim Italiener zum Beispiel. Was hältst du davon?«
    »Weiß nicht«, sagte ich.
    »Was weißt du nicht?«
    »Ob ich Lust und Zeit habe.«
    »Ach, komm schon. Du musst hier unbedingt mal raus. Und ich könnte auch Abwechslung gebrauchen. Komm, sag ja!«
    »Mal sehen.«
    »Okay. Kommst du nachher zum Essen runter?«
    Jeden Abend die gleiche Frage. Jeden Abend die gleiche Reaktion. Ich schüttelte den Kopf.
    »Elina, du musst was essen, du bist schon ganz dünn geworden.«
    »Ich habe aber keinen Hunger.«
    »Wenigstens eine Kleinigkeit«, drängte Erik.
    »Mal sehen.«
    Er gab auf und ging aus dem Zimmer.
    Ich verließ meinen Stammplatz an der Heizung und legte mich aufs Bett. Ohne Vorwarnung hatte ich heftige Unterleibsschmerzen bekommen. Es war als würde mir jemand wieder und wieder mit einem Messer in den Bauch stechen. Auch das noch. Meine Regel setzte ein. In letzter Zeit kam sie sehr unregelmäßig. Hedda vermutete, es lag daran, dass ich so stark abgenommen hatte.
    Ich ächzte und wälzte mich auf dem Bett umher. So ein Mist. Das war das einzig Gute an den vergangenen elf Monaten gewesen: Die Regel war öfter ausgeblieben. Nun war sie da. Vor Schmerzen wusste ich kaum, wo ich bleiben sollte. So ähnlich musste es sein, wenn man ein Kind bekam, schoss es mir durch den Kopf, als das Messer erneut zustach.

Julius Cäsar

    Um 6 Uhr morgens wurde ich wach. Der Wecker hatte noch nicht geklingelt. Wohlig streckte ich mich in meinem Bett aus. Die Unterleibsschmerzen hatten nachgelassen. Ich fühlte mich besser. Nicht mehr so einsam. Fast glücklich. Ein schon lange nicht mehr gekanntes Gefühl. Ich überlegte, was der Grund dafür sein konnte. Mir fiel ein, dass ich geträumt hatte, und zwar etwas absolut Seltsames.
    Ich schloss die Augen und horchte in mich hinein. Der Traum war noch sehr präsent: Ich sah einen kleinen Jungen, der in einem umzäunten Viereck inmitten der afrikanischen Steppe stand. Im Hintergrund erhoben sich grau-violette Berge, deren Gipfel mit dem Himmelsblau verschmolzen. Doch irgendetwas stimmte hier nicht. Die Steppe sah fremd aus. Nicht so, wie ich sie aus Kenia kannte. Was ich erblickte, glich eher der Prärie. Der Junge wirkte ebenfalls amerikanisch. Er trug Stiefel, dunkelblaue Jeans, die einmal umgekrempelt waren und ein hellblaues Hemd. Ich konnte den Jungen nur von hinten sehen, trotz allem war ich mir sicher: Er hatte blaue Augen, und unter seinem beigen Cowboyhut verbargen sich blonde Haare. Der Junge war höchstens acht oder neun Jahre alt. Keine Ahnung, ob es an seiner Kleidung oder an seinem gesamten Auftreten lag, aber es war eindeutig, dass er in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebte. Wer er war, stand ebenfalls außer Frage: Der Junge in dem umzäunten Viereck war niemand anderes als mein Sohn! Ich hatte einen Sohn! Einen kleinen Cowboy-Jungen, der aus einer anderen Zeit stammte. Diese Erkenntnis erstaunte mich eigenartigerweise nicht, sondern machte mich einfach nur glücklich. Selbst jetzt im Wachzustand hielt dieses Gefühl noch an.
    Langsam öffnete ich wieder die Augen. Ein Sonnenstrahl lugte durchs Fenster und tauchte Abertausende von Staubpartikeln vor meiner Nase in gleißendes Licht. Gut sichtbar tanzten sie vor mir auf und ab. Eine Fliege gesellte sich hinzu und zog

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