Tempus (German Edition)
noch weiter über die Brüstung.
»Das ist gefährlich, was du machst!« Eine Hand riss mich von der Mauer weg. Ich drehte mich um und blickte in zwei besorgte Augen. Sie waren gelblich braun mit grünen Sprenkeln darin. »Geht es dir gut?« Sanft fuhr der Wind durch die Gräser.
Ich brauchte eine Weile, bis ich antworten konnte. »Ja«, stammelte ich, dann gaben meine Knie nach. Sofort griff er mir unter die Arme.
»Ehrlich gesagt, siehst du nicht so aus!« Er führte mich zu einer schattigen Bank. »Du solltest in der Mittagszeit nicht so lange in der Sonne stehen. Es ist zu heiß. – Hast du was zum Trinken dabei?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Soll ich eine Flasche für dich kaufen?« Er zeigte auf einen kleinen Verkaufsstand in der Nähe.
Wieder schüttelte ich nur den Kopf. Er sah verändert aus. Er trug eine Jeans, ein weißes Hemd sowie einen modischen kurzen Bart. Seine haselnussbraunen Haare waren länger als sonst und wellten sich leicht. Es stand ihm. Er sah gut aus. So gut, dass es wehtat. Ich begriff überhaupt nichts mehr. Wieder einmal. Marcius war tot, gestorben vor mehr als zweitausend Jahren! Wieso stand er jetzt vor mir und erkannte mich nicht?!
»Wollen wir zusammen in ein Café gehen? Ich stelle gerade fest, ich müsste auch unbedingt was trinken.« Er sprach Englisch mit italienischer Färbung. Sein Mund und seine Augen lächelten. »Was ist? Warum siehst du mich so an?«
Ich komme wieder, ich komme wieder, ich komme wieder!
Wir sind wie Blätter im Sturm, dachte ich, die kreuz und quer in alle Himmelsrichtungen gewirbelt werden. Willkürlich. Einfach so. Ohne Sinn und Verstand durch Zeit und Raum. Ohne uns wehren zu können. Unvermindert starrte ich Marcius an, während ich in meinem Körper umhertaumelte.
»Kennen wir uns?« Er legte seinen Kopf schief und runzelte leicht die Stirn.
»Ich weiß nicht. Vielleicht ...«
Er lachte fröhlich auf. »Du weißt es nicht? Na, wenn du es nicht weißt, weiß ich es auch nicht. – Wie heißt du?«
»Elina.«
»Hallo Elina, ich bin Mario!« Er streckte mir seine Hand entgegen.
Ich ergriff sie und fühlte, wie etwas von ihm zu mir und von mir zurück zu ihm strömte. Er schien es ebenfalls gespürt zu haben. Diesen Bruchteil einer Sekunde, in dem sich unsere Hände erkannten. Er sah mich suchend an. Seine Steppenaugen waren jetzt ganz ernst. Er nickte unmerklich.
»Du hast einen schönen Anhänger«, sagte er mit Blick auf das Amulett.
»Danke. Er bedeutet mir sehr viel«, erwiderte ich leise.
»Nichts zu danken. Und nun werde ich zu dem Stand dort drüben gehen und uns etwas zu trinken holen. Nicht weggehen, ja?! Du wartest hier auf mich, versprochen?« Er hielt noch immer meine Hand fest.
»Versprochen«, antwortete ich. Mein Herz schlug wie verrückt.
»Ich komme gleich wieder!« Er ließ meine Hand los, drehte sich um und humpelte davon.
Leise Melodie
Fertig. Ich klicke auf Speichern und blättere noch einmal in Elinas Tagebuch, das neben mir auf dem Schreibtisch liegt und das ich für sie in gewisser Hinsicht weitergeführt habe. Dabei ist Schreiben eigentlich nicht meine Sache. Ich bin Ärztin und keine Schriftstellerin. Trotzdem habe ich es versucht.
Seit ihrem Referatsthema hatte Elina ein Faible für das alte Rom. Sie war regelrecht besessen davon. Ständig las sie historische Romane oder schaute sich alte Sandalenfilme wie Ben Hur , Cleopatra oder Gladiator an. Deshalb habe ich sie eine Zeitreise machen lassen und ihr Leben auf diese Weise fortgeschrieben. Im Nachhinein befürchte ich allerdings, dass die Geschichte viel zu dramatisch und grausam geworden ist. Ich hätte Elina besser beschützen müssen. Auch bei ihrer Zeitreise. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Was bin ich bloß für eine Mutter? Es lag und liegt wohl an meiner Stimmung. Im Grunde wollte ich nichts weiter als Elina durch das Schreiben nahe sein. Und ich wollte ihr eine Liebe schenken, die Raum und Zeit überwindet. Vielleicht war es falsch von mir, unerlaubt in ihrem Tagebuch zu stöbern. Doch ich suchte nach Anhaltspunkten.
Seit zehn Monaten ist Elina spurlos verschwunden. Nach einem Streit mit Dennis auf dem Schulhof ist sie nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Ihre Schulkameradin Agnes hat uns von der Auseinandersetzung berichtet. Jonas, der unsere Heizung repariert hat, war zu jenem Zeitpunkt nicht in der Schule, um Elina zu helfen. Das habe ich erfunden. Ab hier habe ich ungefragt in ihr Schicksal eingegriffen.
Elina gilt offiziell als
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