Tempus (German Edition)
nachmittags wenn ich aus der Schule kam, abends bevor ich ins Bett ging – und so oft wie möglich zwischendurch. Immer und immer wieder, obwohl es mich langsam zermürbte. Die ständige Anspannung, wenn ich an den Computer ging, die Enttäuschung, wenn er sich nicht gemeldet hatte und die wahnsinnige Freude, wenn ich eine Nachricht vorfand. Seine Mails machten mich glücklich, zumindest für kurze Zeit. Ansonsten funktionierte ich. Ich aß, ging zur Schule, schlief und wartete darauf, dass die Zeit verging bis ich endlich achtzehn würde und zu Harry zurückkonnte. Alles andere interessierte mich nicht. Freunde hatte ich in Helsingborg keine. Ich war zu sehr mit Warten beschäftigt, auf Mails wie diese:
Hallo Engelchen,
ich vermisse dich sooooooo!!!!!
Ohne dich ist es hier überhaupt nicht mehr schön.
Du musst unbedingt bald wiederkommen!!!!
Alles klar bei dir? Wie läuft’s in der Schule?
Mein neuer Job ist ganz schön anstrengend.
Muss gleich wieder hin.
Dicker Kuss,
Harry
Irgendwann wurden seine Nachrichten seltener und kürzer. Ich bekam häufig nur noch Einzeiler, manchmal schrieb er lediglich etwas in die Betreffzeile, wie zum Beispiel Grüße aus Kenia oder Schlaf gut! Eigentlich hätte ich gewarnt sein müssen, dennoch traf mich seine letzte Mail wie ein tödlicher Schlag. Ich saß betäubt vor dem Computer, in mir nur Leere und Kälte.
So also fühlt sich Sterben an, dachte ich. Ich war gar nicht mehr da; lediglich mein Körper, der aufstand, zum Fenster wankte, die Gardinen zuzog und sich mit dem Rücken an die Heizung setzte, die sich unterhalb des Fensters befand und selbst jetzt Anfang Mai noch lief. Die Wärme tat mir gut. Ansonsten war mir mein Zimmer auch nach fast einem Jahr noch so fremd, dass es kaum Schutz bot. Als es an der Tür klopfte, hatte ich keine Stimme, um zu antworten. Hedda kam wenig später trotzdem herein.
»Was ist los? Warum sitzt du im Dunkeln auf der Erde?«
Schweigend starrte ich vor mich hin. Tote können nicht sprechen; das sollte sie als Ärztin eigentlich wissen.
»Elina, was ist denn schon wieder? Hat sich Harry immer noch nicht gemeldet?«, fragte sie mit Blick auf meinen Computer, der auf dem Schreibtisch stand und leise vor sich hinsurrte.
»Elina!«
Schweigen. Starre. Kälte.
»Elina, rede mit mir!«
Immer noch keine Reaktion. Hedda gab auf und verließ mein Zimmer. Ich wusste, was als Nächstes passieren würde.
Tatsächlich klopfte Erik wenig später der Form halber an die Tür, um im selben Moment die Klinke mit Schwung runterzudrücken und ins Zimmer zu stürzen. »Kleines, Mami sagt, dir geht es schlecht?!« Seine Stimme klang alarmiert.
Eigentlich wollte ich böse auf ihn sein, genauso wie auf Hedda. Schließlich waren sie an allem schuld. Aber ich schaffte es nicht. Leise schluchzte ich auf.
»Elina, was ist denn?!«
Mein Blick wanderte von Erik zum PC.
»Neuigkeiten von Harry?«
Mein Kopf nickte mechanisch.
»Schlechte Neuigkeiten?«
Wieder nickte mein Kopf.
»Was schreibt er denn?«
»Is’ egal.«
»Magst du es mir nicht sagen?«
»Es ist vorbei. Endgültig.« Meine Stimme hörte sich fremd an, so als wäre sie nicht meine.
»Das tut mir leid. Kann ich irgendetwas für dich tun?« Erik hockte sich vor mich auf den Boden. Seine blauen Augen hinter der randlosen Brille guckten besorgt, aber nicht überrascht.
»Nein.«
»Kommst du mit runter zum Essen?«
»Hab keinen Hunger.«
»Okay. Bis später«, sagte Erik und verließ mein Zimmer.
Ich starrte ihm hinterher. Es dauerte eine Weile, bis ich mich aufraffte, zum Schreibtisch hinüberging und die Maus bewegte. Auf dem Bildschirm leuchtete die Mail von Harry auf. Von Anfang an hatte ich geahnt, wie schwierig es sein würde, eine Fernbeziehung zu führen. Mit einer solchen Nachricht hatte ich dennoch nicht gerechnet. Nach wie vor konnte ich kaum glauben, was ich las:
Hi Elina,
ich hätte es dir gern persönlich gesagt. Aber das ist wegen der Entfernung ja nicht möglich. Gestern bin ich Vater geworden. Katie ist 48 cm groß und wiegt 3485 Gramm. Sie ist unglaublich süß. Ihr und Susan geht es sehr gut. Nachher werde ich die beiden aus dem Krankenhaus abholen. Susan (du erinnerst dich bestimmt noch an sie) und ich haben vor sechs Wochen geheiratet. Du weißt schon, damit Katie nicht unehelich auf die Welt kommt und so. Tut mir echt leid, Elina. Ich hätte es dir, wie gesagt, gern persönlich erzählt. Ich vermisse dich. Ich werde dich immer vermissen, ehrlich. Aber ich denke, es ist
Weitere Kostenlose Bücher