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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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bekundet, den Mann aus dem Gästezimmer kennen zu lernen.«
    Da mein Koffer noch in Sidneys Auto lag, zog ich die Sachen vom Abend zuvor an und folgte ihr nach unten. Ihre Eltern waren, trotz der weißen Haare und des deutlichen Altersunterschieds zu meiner Mutter, tatsächlich liberal. Sie wirkten nicht im geringsten brüskiert, sondern schenkten mir eine Tasse Kaffee ein und forderten mich auf, mit ihnen zu frühstücken.
    Beide hatten Sidneys rauchige Stimme, und wie ihre Tochter bombardierten sie mich mit Fragen. Da ich mir nicht sicher war, ob sie meine Geschichten genauso interessant finden würden wie Sidney, lenkte ich von ihren Fragen ab, indem ich selbst welche stellte. Ich erkundigte mich nach ihren Interessen. Sie liebten italienische Opern, Treibhausorchideen, Skilanglauf. Ich hatte keine Ahnung von diesen Themen und kam mir vor, als hätte ich innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden meine zweite Prüfung vermasselt. Schließlich fragte ich nach dem Bauunternehmen der Familie.
    »Manche Firmen bauen Häuser«, sagte Sidneys Mutter. »Wir hingegen bauen Wohnsitze.« Das Wort »Wohnsitze« sprach sie voller Begeisterung aus. Ihre Stimme wurde lauter und ihre Wangen rosig, als sie über das menschliche Bedürfnis nach Schutz redete. Ich erzählte ihr von den Anwesen in Manhasset und Shelter Rock und was sie für mich als kleinen Jungen symbolisiert hatten. Meine Geschichte gefiel ihr, das merkte ich.
    Sidneys Vater stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und erkundigte sich beiläufig nach meiner Familie. Ich prahlte mit meiner Mutter. Er lächelte. »Und Ihr Vater?«
    »Den habe ich eigentlich erst vor kurzem kennen gelernt.«
    Er runzelte die Stirn. Ich war mir nicht sicher, ob aus Mitleid oder Missfallen. Sidneys Mutter wechselte das Thema und fragte, was ich studierte. Was ich werden wollte. Als ich ein Jurastudium erwähnte, sahen beide erleichtert aus.
    »Wir müssen langsam los«, sagte Sidney. »Ich muss JR zum Flughafen fahren.«
    Unterwegs jedoch überlegte Sidney es sich anders. Sie sagte, sie würde mich in Darien absetzen, von dort aus könne ich die restliche Strecke mit dem Shuttle fahren.
    »Warum?«, fragte ich. »Was ist denn los?«
    »Ich glaube einfach, das ist am besten.«
    »Und warum?«
    »Hör zu. Ich bin mit einem andern zusammen.«
    »Ich weiß.« Ich fing von meinem Freund an, der uns in Verfassungsrecht vorgestellt hatte. Nein, sagte Sidney. Noch ein anderer. Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen und spürte einen Knoten im Hals.
    In Darien verließ sie den Highway, und an der Shuttle-Haltestelle sprang sie aus dem Auto. Ich blieb reglos sitzen, während sie mein Gepäck aus dem Kofferraum holte und mich aus dem Auto zitierte. Ich weigerte mich. Sie stellte meinen Koffer auf den Gehweg und wartete. Ich rührte mich nicht von der Stelle. So ging es fünf Minuten. Schließlich packte sie meinen Koffer wieder ein und stieg ins Auto. Wir schwiegen beide, während sie die J-95 in Richtung Süden raste und sich wie ein Indycar-Rennfahrer durch den Verkehr schlängelte. Bei unserer Ankunft am Flughafen war sie allerdings nicht mehr wütend. Ich meinte sogar, eine gewisse unfreiwillige Bewunderung von ihrer Seite zu spüren, als wir uns zum Abschied küssten.
    »Frohe Weihnachten«, sagte sie. »Trouble.«
    Der erste Spitzname, der mir wirklich gefiel.
    Obwohl ich von Liebe noch weniger wusste als von Verfassungsrecht, kam ich auf dem Flug nach Arizona zu dem Schluss, dass ich verliebt war. Oder aber ich stand kurz vor einem Schlaganfall. Ich schwitzte, zitterte, hatte Schmerzen in der Brust. Daran änderte auch nichts, dass ich Sidney noch an meiner Hand spürte und in meiner Tasche eine zerknitterte Serviette mit ihrem Lippenabdruck fand. Ich hielt meine Hand an die Nase, presste die Serviette an den Mund, bis die Flugbegleiterin mich fragte, ob mir übel sei.
    Das Gleiche fragte mich meine Mutter, als ich aus dem Flugzeug stieg. »Ich glaube, ich bin verliebt«, sagte ich.
    »Wie schön!«, sagte sie und legte, während wir Sky Harbor verließen, ihren Arm um mich. »Wer ist denn die Glückliche?«
    Im Auto, beim Abendessen, bis tief in die Nacht versuchte ich, mit meiner Mutter über Sidney zu reden, aber ich fand die Unterhaltung unerwartet kompliziert. Ich wollte meine Mutter über die Liebe ausfragen, glaubte aber, vorsichtig sein zu müssen, um keine unangenehmen Erinnerungen an ihre romantischen Enttäuschungen zu wecken. Ich wollte sie fragen, ob mich unsere Wohnung

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