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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Wohnzimmercouch und redeten. Meine Kindheit, in der ich so oft der Stimme gelauscht hatte, machte sich endlich bezahlt. Ich hörte die verschiedensten Sachen aus Sidneys Stimme heraus – ihre Hoffnungen, ihre Ängste, die Subtexte und großen Pläne ihres Lebens. Um zu zeigen, wie genau ich ihr zuhörte, erzählte ich ihr hinterher ihre Geschichte noch einmal in meinen Worten und ließ durchblicken, was sie in meinen Augen bedeutete. Das fand sie toll.
    Während ich Sidney von mir erzählte, entdeckte ich auch vieles in meiner eigenen Stimme. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich selbst zensiert. Jetzt sagte ich genau das, was ich fühlte, legte es dieser wunderschönen Frau zu Füßen, die mir genauso leidenschaftlich zuhörte wie sie liebte. Gefangen in dieser unzensierten Atmosphäre, erklärte ich Sidney an unserem vierten oder fünften gemeinsamen Tag, dass ich sie heiraten möchte. Wir aßen gerade Bagels in ihrer Küche. Sie verharrte im Kauen und starrte mich an.
    »Heiraten?«
    »Ja. Ich möchte dir einen Diamantring schenken und dich heiraten. Irgendwann.«
    Ihre Augen wurden groß, dann verließ sie das Zimmer.
    Wenig später sagte sie, es sei Zeit, wieder in die Welt zurückzukehren. »Ich kriege Agita«, sagte sie und zog eine enge Jeans an.
    »Was? Agita?«
    »Ich brauche frische Luft, Trouble. Wir müssen uns für Seminare anmelden. Weißt du noch? Yale? Leben?«
    »Nur weil ich gesagt habe, dass wir ..?«
    »Ich ruf dich später an.«
    Ich nahm den nächsten Amtrak-Zug nach New York und stieg an der Penn Station in die Long Island Railroad, die Nahverkehrslinie nach Manhasset um. Onkel Charlie staunte, mich eine Woche nach meiner Abreise schon wieder im Publicans zu sehen. »Wer ist gestorben?«, fragte er.
    »Niemand. Ich musste nur ein paar freundliche Gesichter sehen.«
    Er zeigte auf meine Brust. Mir ging es sofort besser. Dann griff er nach dem Gin. Ich runzelte die Stirn. »Nein«, sagte ich. »Mit Gin bin ich durch. Bitte. Wie wär’s mit einem Scotch?«
    Er wirkte empört. Mein Standardgetränk wechseln? Ein undenkbarer Bruch der Etikette im Publicans. Aber er merkte, wie schlecht es mir ging und ritt nicht darauf herum. »Wie sieht’s aus?«, fragte er beim Eingießen.
    »Liebeskummer.«
    »Sprich dich aus.«
    Er schob das Glas in meine Richtung, als bewegte er einen Läufer über ein Schachbrett. Ich gab ihm einen kurzen Überblick, verschwieg allerdings das auslösende Ereignis – meinen Fauxpas mit dem Heiraten. »Sie hat mich einfach rausgeschmissen«, sagte ich. »Und behauptet, sie hätte Agita.«
    »Was zum Teufel ist das?«
    »Ich glaube, ein jiddisches Wort für Nervensegeln.«
    »Ist sie Jüdin?«
    »Nein. Sie steht nur auf Wörter.«
    Ein Mann in rotschwarzer Jagdjacke und orangefarbener Mütze setzte sich zu mir. »Hey, Kleiner«, sagte er. »Was gibt’s Neues von der Front?«
    »Seine Freundin hat Agita«, sagte Onkel Charlie.
    »Das tut mir leid.«
    Ich erzählte Deer Hunter meine Geschichte mit Sidney, von unserer ersten Begegnung bis hin zu meinem Rauswurf. Als Onkel Charlie mit anderen Gästen beschäftigt war, erwähnte ich auch meinen ungeschickten Heiratsantrag.
    »Moment«, sagte er. »Moment, Moment, Moment. Was ist mit deinem Kumpel?«
    »Mit wem?«
    »Deinem Freund, der eigentlich mit der Braut ging. Weiß er, dass du sie gevögelt hast?«
    Onkel Charlie kam zurück, stützte die Ellbogen auf den Tresen und hörte zu.
    »Ach«, sagte ich. »Mein Freund. Klar, na ja, der fand sie gar nicht so gut. Die beiden sind nur miteinander ausgegangen. Wie das so ist. Nichts Ernstes.«
    »Nein«, sagte Deer Hunter. »Genau da liegt dein Problem. Bräute kommen, Bräute gehen, jeder kriegt mal Angina. Aber du hast deinen Kumpel hintergangen. Du hast die Regel verletzt. Das musst du wieder geradebiegen.«
    »Ich glaube, darum geht es gar nicht«, sagte ich.
    Ich schaute Onkel Charlie an, um mir moralische Unterstützung zu holen, doch er zeigte nur auf Deer Hunters Brust.
     
     
     
24 | PATER AMTRAK
     
    Sidneys Agita verging und ich lernte meine Lektion. Ich machte mir zur Regel, weniger zu reden und mehr zuzuhören. Ich liebte sie immer noch hemmungslos und verzweifelt, versuchte aber, gelassener damit umzugehen.
    Darüber hinaus versuchte ich, mein Studium in Angriff zu nehmen, was mir wegen Sidney schwerer denn je fiel. Ich konnte mich nicht konzentrieren. In Vorlesungen und Seminaren, wenn die Professoren über Berkeley oder Hume quasselten, starrte ich in die Ferne und

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