Tender Bar
Treffen auf der Straße. Ich wollte schnell weitergehen, da ich nicht die wertvolle Zeit der Campusgöttin verschwenden wollte, aber sie zwang mich stehen zu bleiben, stellte mir Fragen, streifte meinen Arm, warf ihre Haare nach hinten. Ich flirtete nicht zurück, denn sie ging ja mit meinem Freund, aber meine Zurückhaltung schien sie zu verwirren und zu erregen. Wieder streifte sie meinen Arm.
»Bist du schon auf die Prüfung in Verfassungsrecht vorbereitet?«, fragte sie.
»Ja, richtig«, sagte ich sarkastisch. »Wann ist die noch mal? Morgen?«
»Wollen wir zusammen lernen?«
»Zusammen?«, sagte ich. »Heute Abend?«
»Ja.« Sie lächelte. Makellose Zähne. »Zusammen. Heute Abend.«
Sie hatte eine Wohnung außerhalb des Unigeländes. Bei meiner Ankunft war eine Flasche Rotwein geöffnet, wir beschäftigten uns also zehn Minuten mit dem Obersten Bundesgericht, dann legten wir die Bücher beiseite und beschäftigten uns miteinander. Ich wollte ihr jede Menge Fragen stellen, so wie Sheryl es immer machte, doch sie kam mir zuvor, beschoss mich mit Fragen, und schon erzählte ich ihr von meiner Mutter, meinem Vater, vom Publicans, allem. Ich spürte, wie mir der Wein und ihre braunen Augen die Zunge lösten. Ich erzählte ihr die Wahrheit. Meinen Vater schilderte ich eher als Gauner denn als Verbrecher, und die Männer aus der Bar stilisierte ich zu Göttern, doch diese Übertreibungen waren nicht falsch. Ich hielt sie für wahr, genauso wie ich mich für authentisch hielt, wenn ich die Männer aus der Bar nachahmte und ihre Sprache und Gestik benutzte. Der Schein täuschte mich genauso wie Sheryl.
Bei der zweiten Flasche erzählte sie mir von sich. Als jüngste von vier Geschwistern war sie im südlichen Connecticut aufgewachsen, am Wasser, am Sund direkt gegenüber von Manhasset. Sie war zwei Jahre älter als ich, im vorletzten Jahr, und wollte Filmregisseurin oder Architektin werden. Der nächste Frank Capra oder der nächste Frank Lloyd Wright, sagte ich. Das gefiel ihr. Ihre Eltern waren einflussreich, großartig, nahmen regen Anteil am Leben ihrer Kinder. Sie besaßen eine Baufirma und wohnten in einem riesigen Haus, das ihr Vater mit seinen eigenen Händen gebaut hatte. Sie bewunderte ihre Mutter, aber ihren Vater idealisierte sie, ein echter Hemingway-Typ, sagte sie, bis hin zum weißen Bart und dem Norwegerpullover. Ihre von Natur aus rauchige Stimme wurde eine Oktave tiefer, als sie einen Bruder erwähnte, der gestorben war und dessen Tod ihre Eltern nie richtig verkraften konnten. Ihre intime Art zu reden vermittelte mir das Gefühl, als zöge sie einen Vorhang um uns.
Kurz nach Mitternacht fing es zu schneien an. »Sieh mal«, sagte sie und zeigte zum Fenster. »Komm, wir machen einen Spaziergang.«
Eingewickelt in Mützen und Schals wanderten wir über den Campus, hielten unsere Gesichter gen Himmel, fingen Schneeflocken auf der Zunge.
»Ist dir klar, dass wir stundenlang geredet haben?«, fragte sie. »Dafür haben wir nichts gelernt«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Wir sahen uns unsicher an.
»Sag mal, wofür steht eigentlich JR?«, fragte sie.
»Das erzähle ich dir, wenn ich dich besser kenne.«
Es war eine reflexartige Antwort – meine Standardlüge wollte ich ihr nicht erzählen, die Wahrheit mochte ich allerdings auch nicht preisgeben –, aber irgendwie klang sie kokett. Bevor ich sie zurücknehmen oder abmildern konnte, schmiegte Sidney sich an mich. Hake an Hüfte schlenderten wir weiter durch den Schnee und betrachteten unsere Fußabdrücke.
Zurück in ihrer Wohnung, tranken wir heiße Schokolade, rauchten Zigaretten und redeten über jedes Thema, nur nicht über Brown gegen die Bildungsbehörde (1954). Im Morgengrauen machte sie uns Eier und Kaffee. Eine Stunde vor der Prüfung verließ ich ihre Wohnung, völlig unvorbereitet und völlig unbekümmert. Dann schob ich den Stift vier Stunden lang über die Seiten in meinem blauen Examensheft, schrieb Unsinn über die Verfassung und wusste, ich würde durchfallen, war aber zugleich außer mir vor Freude, weil ich auch wusste, ich würde Sidney gleich nach der Prüfung wiedersehen. Mir war klar, dass sie ohne anzuklopfen in der Tür stehen würde, und so war es. »Wie ist es gelaufen?«, fragte sie.
»Nicht gut. Und bei dir?«
»Bestens.«
Ich fragte, ob sie einen Kaffee trinken möchte, aber sie hatte es eilig. Sie wollte nach Hause fahren und dort ankommen, bevor die Straßen glatt wurden.
»Und was hast du vor?«, fragte
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