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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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stellte mir Sidneys Gesicht vor. Wenn ich Applaus hörte, wusste ich, die Vorlesung war vorbei und ich könnte in mein Zimmer zurückgehen, mich auf die Fensterbank setzen und an Sidney denken.
    Sie schuf ein schwieriges Paradoxon. Wenn ich es schaffen würde, ihre Liebe zu gewinnen, konnte ich vielleicht zu dem Mann werden, der mir vorgeschwebt hatte, als ich mich für Yale bewarb. Ihre Liebe konnte ich aber nur mit einem abgeschlossenen Studium gewinnen, und um das zu erreichen, musste ich aufhören, mich ihretwegen verrückt zu machen, und mich meinem Studium widmen, was mir nicht im entferntesten möglich schien. Als ich eines Tages in der Bibliothek saß und mich mit aller Macht auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse zu konzentrieren versuchte, blickte ich auf und sah Jedd den Zweiten. Wir hatten uns nicht mehr gesehen, seit er und Bayard mich beim Hemdenwildern erwischt hatten. Er bot mir eine Vantage an.
    »Warst du das, den ich neulich mit Sidney auf der York Street gesehen habe?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Seid ihr zwei …?«
    »Ja.«
    Er warf den Kopf zurück und öffnete den Mund, als wollte er gleich schreien, aber er brachte keinen Ton heraus.
    »Du hast vielleicht ein Glück.«
    Er zündete mir meine Zigarette mit einem Feuerzeug an, das aussah, als hätte es sein Urgroßvater schon in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs benutzt. Wir rauchten. »Wirklich«, sagte er. »Glück.« Pause. »Glück, Glück, Glück.«
    Wir starrten auf die mit Büchern gesäumten Wände. Er blies einen Rauchkringel in die Luft, der wie eine Schlinge über meinem Kopf hing. »Glück«, sagte er.
    Mein Glück hielt bis zum Ende des zweiten Studienjahres an. Ich bestand alle Prüfungen, wenn auch gerade so eben, und Sidney und ich waren noch zusammen. Mehr als zusammen. Sie sagte zu mir, sie hätte mit sämtlichen Männern in ihrem Leben Schluss gemacht und ginge nur noch mit mir.
    Ich fuhr nach Arizona, um dort die Sommerferien zu verbringen; Sidney ging nach Los Angeles, um an einem Programm für aufstrebende Filmemacher teilzunehmen. Ich schrieb ihr lange Liebesbriefe. Ihre Antworten waren weder lang noch liebevoll. Knappe Zusammenfassungen ihres gesellschaftlichen Terminplans. Sie besuchte Cocktailpartys bei Filmstars, trainierte mit dem Männerschwimmteam der USC und brauste in einem Mercedes-Kabrio durch Hollywood. An einem Wochenende besuchte sie auch mich und brachte es fertig, meine Mutter zu bezaubern. Als Sidney einmal aus dem Zimmer ging, blickte meine Mutter auf ihren Teller.
    »Das«, sagte sie und lächelte, als kenne sie ein Geheimnis, »ist das schönste Mädchen, das mir jemals zu Gesicht gekommen ist.«
    »Ich weiß«, sagte ich bedrückt. »Ich weiß.«
    Ich zeigte Sidney auch mein anderes Zuhause, als wir im Herbst nach Yale zurückfuhren. Ich sorgte dafür, dass es ein Samstagabend war, Mitte November, die festlichste Jahreszeit im Publicans. Noch als wir am Eingang standen, verschaffte ich Sidney einen kurzen Überblick über die wichtigsten Spieler und zeigte ihr Onkel Charlie, Joey D, Cagey Colt, Tommy, Fast Eddy, Smelly.
    »Und was macht Smelly hier?«, fragte sie.
    »Er kocht.«
    »Ein Koch namens Smelly. Alles klar.«
    In der Bar sah ich viele vertraute Gesichter, auch aus der Familie. Eine der Cousinen hatte geheiratet und war fortgezogen, aber McGraw und seine vier anderen Schwestern, darunter auch Sheryl, lebten in der Nähe bei Tante Ruth, die an jenem Abend an der Theke saß und sich an einem Cognac festhielt. Ich stellte ihr Sidney vor. »Ober oder Mittel?« fragte Tante Ruth und musterte Sidney von oben bis unten.
    »Wie bitte?«, sagte Sidney.
    »Ober- oder Mittelschicht?«, fragte Tante Ruth.
    Ich hielt mir die Hände vors Gesicht.
    »Ober, würde ich mal schätzen«, sagte Sidney.
    »Sehr schön. Unsere Familie kann eine bessere Menschenklasse gut gebrauchen.«
    Sheryl, die an jenem Abend ebenfalls in der Bar war, eilte zu Sidney und zog sie von Tante Ruth weg wie ein Rodeo-Clown, der einen Cowboy vor einem angreifenden Bullen rettet. Ich schob mich an der Theke entlang, um uns ein paar Drinks zu holen. Onkel Charlie arbeitete und hatte Sidney schon gesehen. »Donnerwetter«, sagte er.
    »Und sie ist noch schlauer als sie hübsch ist«, sagte ich.
    Er packte den Hals einer Scotch-Flasche wie ein Hühnchen, dem er gleich den Hals umdrehen wollte. »Dann weißt du hoffentlich eins«, sagte er. »Du steckst in der Scheiße, mein Freund.«
    Auf der Rückfahrt nach Yale starrte Sidney

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