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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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als wäre der Herbst in einem der Labore auf dem Science Hill erfunden worden und dann entkommen. Die Luft war berauschend und belebend, ein Tupfer Aftershave auf jede Wange, und ich sagte meinen Freunden, wir sollten Gin trinken, ein Zitat von Onkel Charlie, demzufolge jede Jahreszeit ihr Gift hatte. Tolle Idee, sagten meine Freunde. Nach zwei Runden waren wir betrunken. Und hungrig. Wir bestellten Steaks und noch mehr Martinis; als die Rechnung kam, war ich bekümmert. In drei Stunden hatte ich zwei Wochen Wäschegeld auf den Kopf gehauen.
    Wir gingen zu einer Hausparty in der Nähe des Campus. Studenten tanzten auf dem Rasen und der Veranda, als wir ankamen. Wir schoben uns zur Haustür vor und hinein in die dichte schwankende Menge. Ich sah Jedd den Zweiten, er lehnte an der Wand und rauchte. Ich fragte, ob er eine Zigarette übrig hätte. Er zog eine Packung Vantage aus der Brusttasche seines ultracoolen Blazers. Ich bewunderte die Zielscheibe auf der Packung, die ausgehöhlten Filter. Jede Zigarette sah aus wie eine Patronenhülse. Ich stellte mich vor. Er hieß Dave. Er sagte, er brauche noch einen Drink. Ich folgte ihm wie ein kleiner Hund in die Küche, zwängte mich mit ihm durch die Menge und stand plötzlich vor Bayard. »Da bist du ja«, sagte Bayard.
    »Heyyy«, sagte ich.
    »Ich brauche meine Hemden, Mann.« Er trug ein zerknittertes Flanellhemd von der Sorte, wie sie bei mir im Schrank hing.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich musste zwei Arbeiten schreiben und lag zurück. Gleich morgen früh kommen deine Hemden an die Reihe. Versprochen. Pfadfinderehrenwort« Ich legte meine Hand aufs Herz. Bayard senkte den Blick und sah das Monogramm auf der Manschette. Seiner Manschette. Sein Monogramm.
    »Ist das etwa mein – Hemd?«, sagte er.
    »Macht ihr das lieber unter euch aus«, sagte Jedd der Zweite und zog sich zurück.
    Ich setzte zu einer Erklärung an, aber Bayard schnitt mir das Wort ab. Mit einem halb mitleidsvollen Lächeln im Gesicht trat er zur Seite, ging an mir vorbei und zeigte mir kurz und wirkungsvoll, was Klasse ist.
    Ich ging in mein Zimmer zurück und blieb die ganze Nacht auf, um Bayards Hemden zu waschen und zu bügeln. Im Morgengrauen stärkte ich die letzten Manschetten und fasste eine Reihe von Vorsätzen.
    Ich werde nie wieder Gin trinken.
    Ich werde lernen, wie man Vantages raucht.
    Ich werde mich bei Bayard entschuldigen und ihm dann für den Rest meiner Zeit in Yale aus dem Weg gehen.
    Ich werde es versuchen, immer wieder versuchen.
    Sie war mit einem Freund von mir zusammen, und am Ende der Vorlesung gelangten wir alle gleichzeitig zur Tür des Hörsaals. Sie hatte dickes strohgelbes Haar, mandelförmige braune Augen und eine herrliche Nase – ein perfektes gleichschenkliges Dreieck in der Mitte ihres ovalen Gesichts. Ihr Gesicht war von einer derart makellosen Symmetrie, dass ich das befolgte, was uns der Kunstgeschichtsprofessor für das Betrachten eines Porträts empfohlen hatte: Ich zerlegte es in Abschnitte. Erst die vollen Lippen. Dann die weißen Zähne. Die hohen Wangenknochen und die herrliche Nase. Zum Schluss jene braunen Augen, spöttisch und seelenvoll zugleich, als könnte sie dich lieben oder hassen, je nachdem, was du als nächstes von dir gibst.
    »Sidney«, sagte sie und hielt mir die Hand hin.
    »JR«, sagte ich.
    Natürlich trug sie nicht die androgyne Yale-Kluft, bestehend aus Sweatshirt, zerrissenen Jeans und Turnschuhen. Stattdessen hatte sie eine schwarze Hose aus Wollstoff an, einen grauen Kaschmir-Rolli und einen Ledermantel. Sie hatte eine Figur, wie sie durch jahrelanges professionelles Eiskunstlaufen geformt wird, das sah ich sofort. Lange Beine und fester Hintern, wie bei Dorothy Hamill. Sogar ihr Haarschnitt glich ein wenig der Dorothy-Hamill-Frisur. Es fiel mir schwer, sie nicht anzustarren.
    »Ein großartiger Kurs«, sagte sie. »Findest du ihn nicht auch absolut faszinierend?«
    »Nicht unbedingt«, sagte ich lachend.
    »Und warum belegst du ihn dann?«
    »Vielleicht studiere ich noch Jura.«
    »Igitt. Nicht für alles Geld der Welt möchte ich Anwältin sein.« Ich dachte: Weil du schon alles Geld der Welt hast.
    Mein Freund legte besitzergreifend den Arm um Sidney und zog sie weiter. Ich ging in mein Zimmer zurück, hörte Sinatra und bemühte mich, ihr Gesicht nicht ständig in Abschnitten vorbeischweben zu sehen, während ich das Urteil im Fall Dred Scott las.
    Ein paar Tage später liefen wir uns wieder über den Weg. Ein zufälliges

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