Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
Haus. Sie sagte, verglichen mit Opas Haus sei Amityville Horror das reinste Taj Mahal. Sie sagte, man sollte Opas Haus niederbrennen und die Erde mit Salz umpflügen. Sie sagte, Opas Haus sei Manhassets Antwort auf Alcatraz, nur mit klumpigeren Matratzen und schlimmeren Tischmanieren. Mit neunzehn war sie geflohen und als Stewardess bei United Airlines buchstäblich davongeflogen, war in ihrer blauen Uniform und Mütze durchs ganze Land gejettet. Sie hatte in andere Bereiche geschnuppert, als Allround-Sekretärin bei Capitol Records gearbeitet, wo sie Nat King Cole begegnete und in der Telefonzentrale Gespräche zwischen ihrem Chef und Frank Sinatra mithörte. Jetzt, mit dreiunddreißig Jahren, war sie als mittellose, alleinerziehende Mutter in Opas Haus zurückgekehrt, eine bittere Niederlage und ein trauriger Rückschritt. Sie bewältigte drei Jobs – Sekretärin, Kellnerin, Babysitterin – und sparte ständig auf das, was sie unsere nächste große Flucht nannte. Doch jede Flucht endete mit einer Pleite. Nach sechs oder neun Monaten gingen uns die Ersparnisse aus, die Miete stieg und schon saßen wir wieder im Scheißhaus. Als ich sieben war, waren wir bei Opa dreimal aus- und wieder eingezogen.
    Ich liebte das Scheißhaus nicht, verachtete es aber nicht so sehr wie meine Mutter. Das durchhängende Dach, die geklebten Möbel, die überlaufende Sickergrube und das zweihundertjährige Sofa – mir schien das alles ein fairer Handel dafür, dass ich mit meinen geliebten Cousinen und meinem Cousin zusammen sein konnte. Meine Mutter konnte mich zwar verstehen, aber Opas Haus zehrte derart an ihren Nerven, dass sie sich nicht über die Vorteile freuen konnte, die es für mich bereithielt. Sie sei müde, sagte sie. Schrecklich müde.
    Was meiner Mutter jedoch am meisten zusetzte, mehr noch als wieder zurück und unsere Sachen ein weiteres Mal packen zu müssen, war der Augenblick, wenn ihr klar wurde, dass unser nächster Umzug unumgänglich wurde. Ich weiß noch, wie ich einmal in einer Zweizimmerwohnung aufwachte, in die Küche ging und sah, wie meine Mutter dort auf ihren Taschenrechner einhackte. Mir war klar, dass sie seit dem Morgengrauen darauf herumhackte, und sie sah aus, als hätte er zurückgehackt. Ich hatte sie schon lange im Verdacht, mit ihrem Taschenrechner zu reden, so wie ich mit dem Radio, und an jenem Morgen ertappte ich sie auf frischer Tat. »Mit wem redest du?«, fragte ich. Sie blickte auf und zeigte mir ihr ausdrucksloses Gesicht. Mom? Nichts. Vor meinen Augen fiel sie wieder in die katatonische Schulmädchenstarre zurück, nur streckte sie nicht die Hand in die Luft.
    Wenn wir zu Opa zurückkehrten, bestand meine Mutter darauf, dass wir zur Schonung unseres Geisteszustandes regelmäßig Pausen einlegten. Sonntagnachmittags stiegen wir in unseren überspachtelten T-Bird, Baujahr 1963, der sich anhörte wie eine Kanone aus dem Bürgerkrieg, und machten eine Spritztour. Wir starteten am Shore Drive, der schönsten Straße in Manhasset. Die Häuser dort hatten weiße Säulen und waren größer als das Rathaus; einige konnten den Long-Island-Sund als Rasen ihr Eigen nennen. »Stell dir vor, wir würden in einem dieser Schmuckstücke wohnen«, sagte meine Mutter oft. Sie parkte vor dem imposantesten Haus, dem mit den goldgelben Fensterläden und der Veranda, die rundherum ging. »Stell dir vor, du würdest an einem Sommermorgen im Bett liegen«, sagte sie. »Die Fenster sind offen, und eine warme Brise vom Wasser weht die Vorhänge hin und her.«
    Irgendwie schien es bei unseren Ausfahrten immer zu nieseln, sodass meine Mutter und ich nicht aussteigen konnten, um uns alles näher anzusehen. Bei laufendem Motor und eingeschalteter Heizung saßen wir da, die Scheibenwischer schlingerten hin und her. Meine Mutter betrachtete das Haus und ich betrachtete meine Mutter. Sie hatte glänzendes, rotbraunes Haar, das sie schulterlang trug, und grünbraune Augen, die einen Tick grüner wurden, wenn sie lächelte. Ihr häufigster Gesichtsausdruck war ein sehr beherrschter, als wäre sie eine junge Aristokratin, die für ihr Debütantinnen-Porträt posiert. Es war die Miene einer Frau, die lieb und zärtlich sein konnte, die jedoch wild entschlossen war, wenn es darum ging, einen geliebten Menschen zu beschützen. Auf manchen Fotos sehe ich, dass sie sich der Eigenschaft, in harten Zeiten ihre Feinfühligkeit beiseite schieben und mit allen Mitteln kämpfen zu können, durchaus bewusst und ziemlich stolz darauf

Weitere Kostenlose Bücher