Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
war. Die Kamera fing ihren Stolz auf eine Weise ein, wie es meinem siebenjährigen Auge nicht möglich war. Der einzige Stolz, der mir als Junge bei ihr auffiel, war die Freude über ihr sicheres Stilgefühl. Klein und zierlich wie sie war, wusste sie genau, was ihr gut stand. Selbst wenn wir pleite waren, gelang es ihr, klassisch auszusehen, was vermutlich mehr mit ihrer Haltung als ihrer Garderobe zusammenhing.
    Nachdem wir eine Weile so dagesessen hatten, hörten die Hausbesitzer den Motor unseres T-Birds und spähten durch die Fenster zu uns heraus. Meine Mutter schaltete dann auf D und wir fuhren die Plandome Road in Richtung Süden, durchs Geschäftsviertel, das beim Dickens begann und an der St. Mary’s Church endete. Ich fand es schön, dass Manhasset von seinen zwei heiligsten Stätten eingeklammert war, beides Häuser der flüchtigen Begegnung. Bei St. Mary’s bogen wir links auf den Northern Boulevard, dann gleich wieder rechts in die Shelter Rock Road, vorbei am Shelter Rock, einem 1800 Tonnen schweren Gletscher, der viele Jahrtausende zuvor heruntergekullert war wie eine der Murmeln, die ich auf dem knapp zwei Kilometer entfernten Spielplatz der Shelter Rock Grundschule warf. Shelter Rock war von Legenden umwoben. Jahrhundertelang hatte sein spitzer Vorsprung, ein natürlicher Baldachin aus Stein, die Menschen vor Wind und Wetter, vor Tieren und Feinden geschützt. Die einst an der Manhasset Bay ansässigen Indianer verehrten den Fels ebenso wie die dänischen Kuhbauern, die um 1600 nach Manhasset kamen und ihr Glück suchten, dann übernahmen ihn britische Siedler, die hier um 1700 ihre religiöse Freiheit suchten, und schließlich adoptierten ihn die Millionäre, die im 19. Jahrhundert ihre luxuriösen Anwesen entlang der Shelter Rock Road bauten. Ich stellte mir oft vor, dass meine Mutter und ich, wenn es bei Opa richtig schlimm käme, am Shelter Rock leben könnten. Wir würden unter seinem Steinbaldachin schlafen und unsere Mahlzeiten über dem offenen Feuer kochen, und auch wenn es hart wäre, viel härter könnte es nicht mehr sein.
    Gleich hinter dem Fels gelangten wir zu sanft geschwungenen Hügeln, an denen die Häuser noch erstaunlicher waren als die am Wasser. Die hübschesten Häuser auf der Welt, sagte meine Mutter. Alle paar hundert Meter blickten wir durch ein hohes, mit einem Vorhängeschloss gesichertes schmiedeeisernes Tor auf einen Rasen, der größer und grüner war als das Outfield im Shea Stadium und sich bis zum nächsten Anwesen erstreckte, das wie eine Nachbildung der irischen Burgen in meinen Märchenbüchern aussah. »Da wohnen die Whitneys«, sagte sie. »Und da wohnen die Paleys. Und da die Paysons. Ist das nicht hübsch?«
    Bei der letzten Villa machten wir eine Kehrtwende, und auf der Rückfahrt zu Opa fing meine Mutter unweigerlich zu singen an. Mit »I Got You Babe« wärmte sie sich auf, weil ihr die Zeile »They say our love won’t pay the rent – before it’s earned our money’s all been spent« so gut gefiel. Dann schmetterte sie unser Lieblingslied, eine alte Melodie aus der Tin-Pan-Alley-Ära.
     
    Oh! We ain’t got a barrel of money.
    Maybe we’re ragged and funny.
    But we’ll travel along,
     
    Singin’a song,
    Side by side.
     
    Sie sang immer aus vollem Hals, doch die Lautstärke konnte nicht über ihre Verzweiflung hinwegtäuschen. Diese Villen quälten und faszinierten meine Mutter gleichermaßen, und das konnte ich gut verstehen. Mir ging es genauso. Ich presste die Stirn ans Autofenster, während die Herrenhäuser vorbeirauschten, und dachte mir: Es gibt so viele schöne Orte auf der Welt, und alle sind uns versperrt. Offensichtlich ging es im Leben darum, reinzukommen. Warum fanden meine Mutter und ich keinen Weg, um das zu schaffen? Meine Mutter verdiente ein eigenes Heim. Es musste gar keine Villa sein, nur ein kleines Haus mit einem Rosengarten, cremefarbenen Vorhängen und weichen, sauberen Teppichen, in denen die Füße versanken. Das wäre schon genug. Es machte mich wahnsinnig, dass meine Mutter keine schönen Dinge besaß, und noch wahnsinniger, dass ich sie ihr nicht geben konnte, und noch schlimmer war, dass ich nichts davon aussprechen durfte, weil meine Mutter sang und versuchte, fröhlich zu sein. Für meine Mutter zu sorgen hieß, nichts zu sagen, was ihren fragilen Optimismus erschütterte, und so presste ich die Stirn noch fester an die Scheibe, bis es wehtat und meine Konzentration von den Villen zu meinem Spiegelbild im Fenster

Weitere Kostenlose Bücher