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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Repertoire im Dreivierteltakt durch. Plötzlich hörte sie zu singen auf und fragte, was ich von der Bemerkung des Arztes hielt. Ob ich meinen Namen nicht mochte. Ob ich tatsächlich an einer Identitätskrise litt. Ob es etwas oder jemanden gab, der Wut in mir auslöste.
    Ich wandte den Blick von den vorbeirauschenden Villen, drehte mich langsam vom Fenster zu meiner Mutter und bedachte sie mit meinem ausdruckslosen Gesicht.
     
     
     
4 | OPA
     
     
    Eines Tages fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Meine Mutter störte sich weniger an Opas Haus als an seinem Besitzer. Die notwendigen Reparaturen betrübten sie, weil sie durch sie an den Mann erinnert wurde, der sie nicht ausführen wollte. Als ich sah, wie sie in Opas Richtung blickte und dann in tiefste Schwermut verfiel, verstand ich alles, obwohl ich annahm, ihr Problem mit Opa hatte auch etwas mit seinem Aussehen zu tun.
    Opa ließ nicht nur das Haus, sondern auch sich selbst auf den Hund kommen. Er trug Hosen mit Flicken, Schuhe mit Löchern, Hemden mit Speichelflecken und Frühstücksresten, und es konnten Tage vergehen, ohne dass er sich kämmte, sein Gebiss einsetzte oder badete. Seine Rasierklingen benutzte er so oft, dass seine Wangen aussahen, als hätte ihn eine Wildkatze gekratzt. Er war barsch, zerzaust, roch säuerlich und hatte noch eine Eigenschaft, mit der meine Mutter nie zurechtkam – er war faul. Opa gab sich seit langem keine Mühe mehr. Noch als junger Mann hatte er jeden Ehrgeiz, den er besaß, verloren oder aufgegeben. Als sich seine Träume von einer Karriere als Baseballspieler zerschlugen, wechselte er in die Versicherungsbranche und konnte dort Erfolge verbuchen, wie er sie nie für möglich gehalten hätte. War es nicht Ironie des Schicksals, in einem Job zu brillieren, den man verabscheute? Und so rächte er sich am Schicksal. Sobald er genügend Geld gescheffelt hatte, das ihm für den Rest seines Lebens ein zuverlässiges Einkommen garantierte, schmiss er die Versicherungen hin. Seitdem schaute er nur noch zu, wie sein Haus zerfiel und seine Familie ihn entsetzt beobachtete.
    Noch entsetzter waren wir, wenn er sich auf die Straße wagte. Opa ging jeden Tag gegen Abend zum Bahnhof und passte die Züge aus der City ab, die in der Hauptverkehrszeit ankamen. Wenn die Pendler auf den Bahnsteig traten und ihre Zeitungen wegwarfen, tauchte Opa in eine der Mülltonnen und fischte eine Tageszeitung heraus, fest entschlossen, ein paar Cent zu sparen. Kein Pendler, der sah, wie er die Beine aus der Mülltonne streckte, hätte sich vorstellen können, warum dieser alte Landstreicher eigentlich die neueste Ausgabe einer Zeitung wollte – nämlich um die Schlussnotierungen seines beträchtlichen Aktien- und Anleihen-Portfolios zu überprüfen.
    Opa hatte ein fotografisches Gedächtnis, ein erstaunliches Vokabular, beherrschte Griechisch und Latein, aber die Familie ließ er nie an seinen intellektuellen Fähigkeiten teilhaben, weil er nie richtig mit uns redete. Er speiste uns mit endlosen Sprüchen aus Fernsehjingles, Werbeslogans und unlogischen Bemerkungen ab. Erzählten wir ihm von unserem Tag, rief er: »Wir leben in einem freien Land!« Baten wir ihn, die Bohnen weiterzureichen, sagte er: »Für eine gute Zigarette verzichte ich auf jede Brünette.« Informierten wir ihn, dass der Hund Flöhe hatte, meinte er: »Nicht weitersagen – sonst wollen alle einen!« Seine Geheimsprache glich einem Zaun, den er um sich zog, und dieser Zaun wurde noch ein ganzes Stück höher, als er eines Tages mithörte, wie eine meiner Cousinen den verstopften Hund drängte: »Mach bu-bu.« Damit war Opas Erkennungsfloskel geboren. Mindestens zehnmal am Tag sagte er »mach bu-bu«, was von ›hallo‹ über ›los, wir essen‹ bis hin zu ›die Mets haben verloren‹ alles oder nichts bedeuten konnte. Vielleicht redete Opa so, um sein Stottern auszugleichen und weil er auswendig gelernte Floskeln leichter sagen konnte. Möglich ist aber auch, dass er leicht verrückt war.
    Opa hatte zwei Leidenschaften, eine war geheim, die andere nicht. Jeden Samstagmorgen kam er die Treppe herunter, das Haar gebürstet, Gebiss eingesetzt, die Kleider gebügelt und fleckenlos. In der Brusttasche seines blauen Nadelstreifenanzugs steckte ein Spitzentaschentuch. Wortlos stieg er in seinen Ford Pinto, zuckelte davon und kam erst spät nachts wieder zurück, manchmal erst am nächsten Tag. Niemand fragte, wohin Opa fuhr. Sein Samstagsrendezvous war wie die Sickergrube, so

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