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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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wechselte.
    Obwohl ich meine Gefühle fest unter Verschluss hielt, begannen sie irgendwann zu gären und sprudelten schließlich in Form von seltsamen Verhaltensweisen an die Oberfläche. Ich wurde über Nacht zu einem zwanghaften, neurotischen Kind. Ich machte mich daran, Ordnung in Opas Haus zu bringen, indem ich Läufer geradezog, Zeitschriften neu stapelte, das Klebeband an den Möbeln ersetzte. Meine Cousinen und mein Cousin lachten und nannten mich Felix, dabei war ich gar nicht ordentlich, ich wurde nur langsam verrückt. Außer mein Bestes zu geben, damit das Haus möglichst wenig Anstoß bei meiner Mutter erregte, versuchte ich Ordnung in das Chaos zu bringen, ein Streben, das mich letztlich eine dramatische Änderung der Realität suchen ließ.
    Ich fing an, das Leben in Absolutheiten einzuteilen. Manhasset war so, dachte ich – warum nicht die ganze Welt? In Manhasset war man entweder für die Yankees oder für die Mets, reich oder arm, nüchtern oder betrunken, in der Kirche oder in der Bar. Man war »Paddy oder Parma«, wie mir einer meiner Schulkollegen sagte, und ich konnte nicht zugeben, weder vor ihm noch vor mir, dass ich sowohl irische wie italienische Vorfahren hatte. Das Leben wurde von Polaritäten bestimmt, was allein schon der krasse Gegensatz zwischen dem Scheißhaus und der Villa der Whitneys bewies. Dinge und Menschen waren entweder absolut schlecht oder absolut gut, und wenn das Leben diesem Schwarz-Weiß-Schema nicht folgte, wenn Dinge oder Menschen komplex oder widersprüchlich waren, redete ich mir das Gegenteil ein. Ich kehrte jede Niederlage in eine Katastrophe, jeden Erfolg in einen epischen Triumph, teilte alle Menschen in Helden oder Schurken ein.
    Da ich Mehrdeutigkeit nicht ertragen konnte, errichtete ich eine Barrikade aus Wahnvorstellungen.
    Meine anderen Wahnvorstellungen waren offensichtlicher und deshalb für meine Mutter beunruhigender. Ich wurde übertrieben abergläubisch und sammelte Phobien wie andere Jungen Baseballkarten. Ich mied Leitern und schwarze Katzen, warf mir Salz über die Schulter, klopfte auf Holz, hielt die Luft an, wenn ich an Friedhöfen vorbeiging. Ich war derart entschlossen, auf keine Ritze zu treten, aus Angst, meine Mutter würde sich sonst das Kreuz brechen, dass ich auf dem Gehweg wie ein Betrunkener torkelte. »Magische« Worte wiederholte ich dreimal, um Gefahren abzuwenden, und ich hielt Ausschau nach Zeichen und Omen von oben. Ich lauschte der Stimme meines Vaters und der Stimme des Universums. Ich redete mit Steinen und Bäumen und unbelebten Dingen, besonders mit dem T-Bird. Wie ein Pferdeflüsterer streichelte ich sein Armaturenbrett und bat ihn, nicht kaputtzugehen. Wenn der T-Bird den Geist aufgab, befürchtete ich, würde meine Mutter zusammenbrechen. Irrationale Ängste verfolgten mich, und die schlimmste war, ich könnte als Letzter in Opas Haus einschlafen. Wenn alle außer mir schliefen, fühlte ich mich unerträglich einsam und meine Glieder wurden kalt und starr. Möglicherweise hatte es etwas mit der Abwesenheit der vielen Stimmen zu tun. Als ich meiner fünf Jahre älteren Cousine Sheryl meine Angst gestand, legte sie einen Arm um mich und sagte genau das Richtige. »Selbst wenn wir alle schlafen, kannst du sicher sein, dass Onkel Charlie und die Männer im Dickens noch wach sind.«
    Meine Mutter hoffte, irgendwann würde ich mein merkwürdiges Verhalten hinter mir lassen. Stattdessen wurde es schlimmer, und als ich auch noch Wutanfälle bekam, ging sie mit mir zum Kinderpsychologen.
    »Wie heißt der Junge?«, fragte der Psychologe, als meine Mutter und ich auf Stühlen gegenüber seinem Schreibtisch saßen. Er machte sich Notizen auf einen Block.
    »JR«, sagte meine Mutter.
    »Sein richtiger Name.«
    »JR.«
    »Das sind Initialen, oder?«
    »Nein.«
    »Tja dann.« Der Psychologe legte seinen Block auf den Schreibtisch. »Da haben Sie die Antwort.«
    »Wie bitte?«, fragte meine Mutter.
    »Der Junge leidet offenbar an einer Identitätskrise. Er hat keine Identität, und das verursacht Wut. Geben Sie ihm einen Namen – einen richtigen Namen – dann ist Schluss mit den Anfällen.«
    Im Aufstehen befahl mir meine Mutter, meine Jacke wieder anzuziehen, wir würden gehen. Dann bedachte sie den Psychologen mit einem Blick, der den Shelter Rock hätte spalten können, und erklärte ihm in gemessenem Ton, dass Siebenjährige nicht an Identitätskrisen litten. Auf der Rückfahrt zu Opa umklammerte sie fest das Steuer und sang ihr

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