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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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offensichtlich faul, dass es keines Kommentars bedurfte.
    Seine nichtgeheime Leidenschaft galt Wörtern. Opa saß stundenlang in seinem Schlafzimmer und löste Kreuzworträtsel, las Bücher und schlug unter einer Lupe im Wörterbuch nach. Shakespeare hielt er für den größten Mann aller Zeiten, »weil er die eng …, eng …, englische Sprache gestaltete – wenn er ein bestimmtes Wort nicht fand, dachte er sich eins aus«. Opa schrieb sein etymologisches Interesse seinen Jesuitenlehrern zu, die, wenn ihm ein Wort nicht einfiel, es ihm einprügelten. Die Prügel halfen zwar, waren jedoch Opas Meinung nach auch der Grund für sein Stottern. Es waren Priester, die seine Liebe zu Wörtern gefördert hatten, und Priester, die es ihm erschwerten, sie auszusprechen. Mein erstes Beispiel für Ironie.
    Eine der wenigen zärtlichen Situationen, die ich mit Opa erlebte, kam auch durch ein Wort zustande. Es passierte, als er zufällig den Hörer abnahm. Aufgrund seines Stotterns und schlechten Gehörs mied er normalerweise das Telefon, aber er ging gerade daran vorbei, als es klingelte, und so hob er ab. Vielleicht ein Reflex. Oder er langweilte sich. Da er nicht verstand, was die Frau am Telefon sagte, winkte er mich zu sich. »Übersetzen«, sagte er und drückte mir den Hörer ans Ohr.
    Die Frau führte eine Umfrage für eine Marktforschungsfirma durch. Sie leierte eine Liste von Produkten, Autos und Lebensmitteln herunter, die Opa allesamt weder benutzt, gefahren noch probiert hatte. Trotzdem gab er zu jedem eine Meinung ab und log munter drauflos.
    »Gut«, sagte die Frau. »Und was ist das Beste an der Stadt, in der Sie leben?«
    »Was ist das Beste an Manhasset?«, übersetzte ich.
    Opa überlegte gewissenhaft, als würde er von der Times interviewt. »Die geringe Distanz zu Manhattan«, sagte er.
    Ich gab die Antwort an die Frau weiter.
    »Schön«, sagte sie. »Und zum Schluss, wie hoch ist Ihr jährliches Einkommen?«
    »Wie ist dein jährliches Einkommen?«, übersetzte ich.
    »Leg auf.«
    »Aber …«
    »Leg auf.«
    Ich legte den Hörer auf die Gabel. Opa saß schweigend da, die Augen geschlossen, und ich stand vor ihm und rieb mir die Hände, eine Angewohnheit, wenn ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
    »Was bedeutet ›geringe Distanz‹?«, fragte ich.
    Er stand auf, steckte die Hände in die Taschen und klimperte mit ein paar Münzen. »Nähe«, sagte er. »Zum Bei …, Bei …, Beispiel habe ich zu viel Nä …, Nä …, Nähe zu meiner Familie.« Er lachte. Erst glucksend, dann ein heiseres Ha-ha, das mich zum Lachen brachte. Wir mussten beide lachen, gackerten wie verrückt, bis Opa einen Hustenanfall bekam. Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und spuckte Schleim hinein, dann tätschelte er mir den Kopf und ging weg.
    Nach diesem kurzen Schlagabtausch fühlte ich eine neue emotionale Nähe zu meinem Großvater. Langsam kamen mir Ideen, wie ich ihn für mich gewinnen konnte. Vielleicht konnte ich ja seine Fehler ignorieren und mich auf seine guten Seiten konzentrieren, welche auch immer das sein mochten. Ich musste nur seinen linguistischen Zaun überwinden. Ich schrieb ein Gedicht über ihn, das ich ihm eines Morgens großspurig im Badezimmer überreichte. Er seifte sich gerade zum Rasieren ein und benutzte einen Biberhaarpinsel, der wie ein Riesenchampignon aussah. Er las das Gedicht, gab es mir zurück und drehte sich wieder seinem Spiegelbild zu. »Danke für die Sch …, Sch …, Schleichwerbung«, sagte er.
    Später plagten mich Gewissensbisse. Würde ich meine Mutter verraten, wenn ich mich mit Opa anfreundete? Ich nahm mir vor, sie um Erlaubnis zu fragen, bevor ich mich weiter vorwagte, und als ich ins Bett musste, horchte ich sie aus und bat sie, mir noch einmal zu erklären, warum wir Opa hassten. Sie zog mir die geschrumpfte Kuscheldecke bis unters Kinn und wählte sorgfältig ihre Worte. Wir hassten Opa gar nicht, sagte sie. Im Gegenteil, sie hoffe sogar, ich fände einen Weg, mit ihm klarzukommen, solange wir unter seinem Dach lebten. Ich solle ruhig weiterhin mit Opa reden, sagte sie, auch wenn er mir nicht antwortete. Außerdem solle ich der Tatsache, dass sie nicht mit ihm redete, keine zu große Bedeutung beimessen. Nie.
    »Aber warum redest du nicht mit ihm?«, fragte ich. »Warum wirst du immer ganz traurig, wenn du ihn anguckst?«
    Sie starrte die abblätternde Tapete an. »Weil Opa ein echter Geizhals ist«, sagte sie. »Und das nicht nur in Bezug auf Geld.«
    Opa gebe keine

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