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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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mit der Schreckensnachricht an. Wir blieben zusammen am Telefon, sahen fern, und als wir wieder sprechen konnten, fragten wir uns panisch, wie viele Leute aus Manhasset wohl in den Türmen waren.
    Es war schlimmer, als wir befürchtet hatten. Fast fünfzig Menschen aus Manhasset starben bei den Anschlägen auf das World Trade Center, darunter Peter Owens, der Barkeeper, mein gütiger Lektor und Freund. Auch mein Cousin Tim Byrne, der starke, charismatische Sohn von Charlene, einer Cousine ersten Grades meiner Mutter. Tim, der als Makler bei Sandier O’Neill arbeitete, befand sich in seinem Büro im 104. Stock des Südturms, als das erste Flugzeug in den Nordturm krachte. Er rief seine Mutter an und sagte ihr, es ginge ihm gut, sie brauche sich nicht zu sorgen. Dann donnerte das zweite Flugzeug in seinen Turm und niemand hörte mehr von ihm.
    Ich war zu der Zeit in Denver. Zu den Beerdigungen und Gedenkfeiern fuhr ich nach New York. Unterwegs hörte ich Radiosendungen mit Hörerbeteiligung und staunte darüber, dass viele Menschen nicht anriefen, um darüber zu reden, sondern um zu schluchzen. Außerhalb von St. Louis versuchte ich, McGraw reinzukriegen, der bei KMOX, einem der größten Sender in den Vereinigten Staaten, eine Radio-Live-Sendung moderierte. Ich wollte hören, was er zu den Anschlägen zu sagen hatte, einfach nur seine Stimme hören, weil ich dachte, sie würde mir guttun. Wir hatten uns aus den Augen verloren. Ein paar Jahre, nachdem ich New York verlassen hatte, wurden Oma und Opa krank, und meine Mutter und McGraws Mutter stritten sich um ihre Pflege, und zwar so erbittert, dass die Sache vor Gericht ausgetragen werden musste und erst endete, als beide Großeltern 1997 starben. Der Streit spaltete die Familie in zwei Lager. McGraw und seine Schwestern, auch Sheryl, sprachen nicht mehr mit mir, weil sie zu ihrer Mutter hielten und ich zu meiner. Auf der Fahrt durch Missouri mitten in der Nacht drehte ich den Senderknopf vor und zurück und meinte fast schon, McGraw in jenem Meer von Schluchzern und Stimmen gefunden zu haben. Doch dann verlor ich ihn wieder.
    Ich schaltete das Radio aus und rief jeden an, den ich in New York kannte. Mein Zimmerkollege im College erzählte mir, dass Dave Berray – der überaus selbstbewusste Yale-Student, dem ich den Spitznamen ledd der Zweite verpasst hatte – bei den Anschlägen ums Leben gekommen war. Er hinterließ eine Frau und zwei kleine Kinder. Ich rief Jimbo an, der außerhalb von New York lebte. »Erinnerst du dich noch an Michelle?«, fragte er. Ich hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr mit Michelle, sah ihr Gesicht jedoch so deutlich vor mir wie die Coca-Cola-Reklame ein Stück weiter vorne. »Ihr Mann wird vermisst«, sagte Jimbo.
    »Hat sie Kinder?«, fragte ich.
    »Einen Sohn.«
    Als ich in Huntington auf Long Island ankam, in der Apartmentwohnung, die Tim für seine Mutter gekauft hatte, weinte Tante Charlene so bitterlich, dass ich ahnte, ihre Trauer würde Jahre dauern. Ich verbrachte die Woche mit ihr, versuchte zu helfen, doch Tante Charlene und den Byrnes war nur zu helfen, wenn man ihren Verlust in Worte kleidete. Ich schrieb eine Geschichte für meine Zeitung, die Los Angeles Times, über Tim und darüber, wie er die Familie nach dem Tod seines Vaters geführt hatte. Ich erinnerte mich noch an die Beerdigung seines Vaters, als Tim die schwerste Last des Sarges, und später, seiner Mutter zuliebe, den Großteil der Verantwortung getragen hatte. In dieser Rolle machte er weiter, half und führte Tante Charlene finanziell und emotional, war immer der Sohn, der ich gern gewesen wäre. Darüber hinaus fungierte er als Familienoberhaupt. Für seine Geschwister war er wie ein Vater, dann wurde er ihr Vater, und unter den vielen bedrückenden Zufällen, die Tims Tod umgaben, war die unwahrscheinlichste, dass sein Vater am 11. September Geburtstag hatte.
    Am Ende dieser harten Woche traf ich mich mit Jimbo, wir wollten zusammen zum Gedenkgottesdient für Peter gehen. Als Jimbo vor meinem Hotel hielt, fehlten mir die Worte. Ich hatte zu ihm den Kontakt verloren wie zu allen im Publicans auch, und nachdem ich ihn jahrelang nicht gesehen hatte, konnte ich seine Verwandlung in einen rotgesichtigen Steve den Zweiten nicht fassen. Im Grunde schien er damit zu ringen, wo Steves Identität aufhörte und seine begann. Er erzählte mir, dass er bereits eine Bar namens Dickens eröffnet hatte, die jedoch Pleite ging, aber er dachte daran, es wieder zu

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