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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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wiedergeben. »Du hast sie bezaubert«, sagte sie, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
    »Wie meinst du das?«
    »Ich wusste, du würdest es schaffen.«
    Doch es war genau umgekehrt. Bill und Bud hatten mein Innerstes frei gelegt.
    Ein paar Monate nach unserem Bankrott gelang es meiner Mutter irgendwie, eine neue Kreditkarte zu ergattern. Damit kaufte sie mir für den Mai ein Flugticket nach New York – sie wollte unbedingt, dass ich jeden Sommer in Manhasset verbringe, weil ich so gern bei den Männern war – und für den August ein Ticket für sich, damit wir zusammen nach New Haven fahren und uns in Yale umsehen konnten, bevor ich mein zweites Highschool-Jahr antrat. Wir borgten uns Onkel Charlies Cadillac, Oma und Sheryl begleiteten uns. Anstatt wie Colt und Bobo darüber zu reden, wer wen im Dickens »nagelte«, plapperten die Frauen über Mode, Kochen und Frisuren. Was für ein Frevel! Um der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben, streute ich beliebige Informationen aus der Yale-Broschüre ein, die auf meinem Schoß lag. »Wusstet ihr, dass Yale 1701 gegründet wurde? Das heißt, es ist fast so alt wie Manhasset. Wusstet ihr, dass das Motto von Yale Lux et Veritas lautet? Das ist Lateinisch und heißt ›Licht und Wahrheit‹. Wusstet ihr, dass der erste Doktortitel in Yale vergeben wurde?«
    »Steht in deinem schlauen Buch auch, was die ganze Chose kostet?«, fragte Sheryl auf dem Rücksitz.
    Ich las vor. »›Die Gesamtkosten eines Studienjahrs in Yale belaufen sich, einer vernünftigen Schätzung zufolge, auf elftausenddreihundertneunzig Dollar.‹«
    Schweigen.
    »Hören wir doch einfach ein bisschen Musik«, sagte Oma.
    Noch ehe wir Yale sahen, hörten wir es. Bei unserer Ankunft in New Haven läuteten die Glocken im Harkness Tower. Sie klangen so schön, dass ich es kaum aushielt. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster und dachte: Yale hat eine Stimme, und sie spricht zu mir. Etwas in mir, ein explosives Gemisch aus Armut und Naivität, sprang auf diese Glocken an. Schon damals neigte ich dazu, alles, was ich verehrte, als gleichsam heilig zu betrachten, und die Glocken schürten diese Illusion und warfen eine weihevolle Aura über den Campus. Ich neigte außerdem dazu, in jedem Ort, der mir verwehrt war, ein Schloss zu sehen, und nun lag Yale vor mir, verziert mit Türmen und Zinnen und Wasserspeiern. Aber es gab auch einen Burggraben – den Kanal vor unserer Wohnung in Arizona. Kaum hatten wir den Cadillac geparkt und schlenderten herum, packte mich die alte Panik.
    Zuerst gingen wir in die Sterling Library. Das dunkle Mittelschiff, die gewölbten Decken und mittelalterlichen Torbögen gaben der Bibliothek den Anschein einer Kirche, ein Gebetshaus für Leser, und entsprechend ehrfürchtig verhielten wir uns. Unsere Schritte hallten auf dem Steinfußboden wie Gewehrfeuer wider, als wir durch einen Gang in einen Leseraum schritten, in dem sich Sommerschulstudenten mit Büchern in alten, dick gepolsterten jagdgrünen Ledersesseln eingeigelt hatten. Wir verließen Sterling und schlenderten über einen breiten Rasen zur Beinecke Rare Book and Manuscript Library, dem Hort von Yales unersetzlichen Schätzen. Die Wände des klotzigen Gebäudes zierten kleine Marmorquadrate, die sich mit dem wechselnden Sonnenlicht am Himmel verschieden färbten. Wir ließen das Commons hinter uns, den Speisesaal der Erstsemester mit den gewaltigen Marmorsäulen und den entlang der Fassade eingravierten Namen der Schlachten im Ersten Weltkrieg. Inzwischen war ich völlig verzweifelt, und meine Mutter merkte es. Sie schlug eine Pause vor. In einem Sandwich-Laden am Rand des Campus saß ich da, die Hände unter meinem Hintern. Iss deinen Hamburger, sagte Oma. Er braucht ein Bier, sagte Sheryl. Meine Mutter forderte mich auf, den Mund aufzumachen und in Worte zu fassen, was mich so verwirrte. Aber ich mochte nicht aussprechen, dass ich alles geben würde, hier in Yale zu studieren, dass mein Leben sinnlos wäre, wenn ich nicht reinkäme, ich aber bestimmt nicht reinkäme, weil wir nicht zu den Leuten gehörten, die »reinkamen«. Ich musste es auch nicht sagen. Meine Mutter drückte mir die Hand. »Wir kommen rein«, sagte sie.
    Ich entschuldigte mich und stürmte aus dem Sandwich-Laden. Wie ein entflohener Irrer taumelte ich über das Unigelände, starrte die Studenten an, spähte in Fenster. Jedes Fenster umrahmte eine idyllischere Szene. Professoren diskutierten über Ideen. Studenten tranken Kaffee und dachten

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