Tender Bar
du unbedingt eines der besten Colleges besuchen, denn nur die besten zahlen die Gebühren. Ich erzählte ihnen scherzhaft von dem Gutenachtlied meiner Mutter, als ich noch kleiner war: »Harvard oder Yale, Liebling, Harvard oder Yale.«
»Doch nicht Harvard«, sagte Bud. »Willst du vielleicht Steuerberater werden? Wäre ja noch schöner.«
»Nein. Anwalt.«
»Gütiger Himmel.« Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und schnupperte wütend an seinem Handgelenk. Bill zündete sich eine Zigarette an und streckte sich auf dem Liegestuhl aus. »Wie wär’s mit Yale?«, sagte er.
»Ja«, entgegnete Bud. »Yale.«
Gekränkt erklärte ich ihnen, dass ich es grausam von ihnen fände, mich so auf den Arm zu nehmen. »Yale ist für reiche Leute«, sagte ich. »Für kluge Leute. Andere Leute.«
»Nein«, sagte Bud. »Yale ist für alle offen. Das ist das Tolle an Yale.«
Plötzlich fielen sie sich gegenseitig ins Wort, schwärmten von Yale, erzählten die Geschichte der Universität, die Liste der berühmten Absolventen, von Noah Webster über Nathan Hale bis hin zu Cole Porter. Sie sangen ein paar Takte des Kampfsongs von Yale, lobten die Professoren im Fachbereich Englisch – die besten überhaupt, versicherten sie mir.
Ich war schockiert, wie viel sie wussten. Später wurde mir klar, dass sie irgendwann wohl selbst davon geträumt hatten, in Yale zu studieren. »Yalies sind klug«, sagte Bill, »aber keine Genies.«
»Ein Yalie weiß nicht alles über jede Kleinigkeit«, sagte Bud mit erhobenem Zeigefinger. »Ein Yalie weiß eine Kleinigkeit über alles.«
»Ein Yalie ist urban«, sagte Bill. »Du weißt, was ›urban‹ bedeutet, oder?«
»Ja«, sagte ich und lachte.
Sie warteten.
»Es heißt, dass man in einer Stadt lebt.«
Bud reichte mir ein Lexikon.
»Ein Yalie ist ein Mann von Welt«, sagte Bill. »Ein Mann der Renaissance. Das sollte dein Vorbild sein. Ein Yalie kann schießen, Foxtrott tanzen, einen Martini mixen, eine Fliege binden, ein französisches Verb konjugieren – auch wenn er nie so weit gehen würde, die Sprache ganz zu beherrschen – und er kann dir sagen, welche Symphonien Mozart in Prag und welche in Wien geschrieben hat.«
»Ein Yalie hat etwas von E Scott Fitzgerald«, sagte Bud. »Erinnerst du dich? Bei Fitzgerald hat jede Figur in Yale studiert. Nick Carraway beispielsweise.«
Betreten blickte ich zur Seite. Bill stöhnte, erhob sich aus seinem Liegestuhl und ging in den Laden, um den Einband vom Großen Gatsby abzureißen.
Da ich Bill und Bud nicht erklären wollte, dass meine Mutter und ich zu den Leuten gehörten, die nicht »reinkommen«, sagte ich bloß: »Es ist schon beängstigend, überhaupt daran zu denken – Yale.« Es war die falsche Bemerkung und zugleich die richtige.
»Dann ist es beschlossene Sache«, sagte Bud. Er stand von seinem Stuhl auf, kam auf mich zu, schnupperte an seiner Faust und rückte seine Buddy-Holly-Brille zurecht. »Du musst alles tun, was dir Angst macht, JR. Alles. Damit meine ich nicht, dass du dein Leben riskieren sollst, aber alles andere. Du solltest über Angst nachdenken und dir gut überlegen, wie du damit umgehen willst, denn Angst ist das große Thema in deinem Leben, glaub mir. Angst ist der Schlüssel zu deinem Erfolg und der Hauptgrund für dein Scheitern, Angst ist das zugrunde liegende Dilemma in jeder Geschichte, die du dir über dich selbst erzählst. Und was ist die einzige Chance, die du gegen Angst hast? Folge ihr. Lass dich von ihr leiten. Du darfst Angst nicht als den Schurken sehen. Betrachte Angst als deinen Führer, deinen Wegweiser – deinen Natty Bumppo.«
Für einen Mann, der versteckt im Lagerraum eines Buchladens in einem halb verlassenen Einkaufszentrum lebte, war das eine seltsame Rede. Aber ich ahnte, warum Bud sich für das Thema so erwärmt hatte. Er wollte mir einen Rat geben, den er nie bekommen hatte. Es war ein entscheidender Augenblick zwischen uns, und mir war klar, ich sollte etwas Tiefschürfendes sagen, aber mir fiel nichts ein, deshalb lächelte ich unsicher und fragte: »Wer ist Natty Bumppo?«
Er schnaubte laut durch die Nase. »Was bringen sie euch eigentlich in der Schule bei?«
An jenem Abend sagte ich meiner Mutter beim Essen zwei Dinge. Ich wollte Geld sparen und Bill zu Weihnachten einen neuen Liegestuhl kaufen. Und ich hatte beschlossen, in Yale zu studieren. Ich wollte, dass es nach meiner eigenen Entscheidung klang, aber ich musste ihr die Unterhaltung mit Bill und Bud genau
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