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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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ganzen Lagerraum stellte er seine schwelenden Kippen verkehrt herum auf Tisch-und Schreibtischkanten und ließ sie ausbrennen, bis er das Schaubild eines Waldbrandes geschaffen hatte. Auch seine Augen wirkten ausgebrannt, weil er so viel las, und seine Brillengläser waren dicker als die von ihm geliebten russischen Romane. Er verehrte die Russen und redete mit einer entwaffnenden Vertrautheit von Tolstoi, dass man hätte meinen können, er wäre dem großen Schriftsteller noch einen Anruf schuldig. Bill besaß genau zwei Krawatten, eine schwarz, eine grün, beide gestrickt, und wenn er eine davon am Ende des Arbeitstages abnahm, öffnete er nicht den Knoten, sondern hängte sie wie einen Werkzeuggürtel an einen Haken in der Wand.
    Wenn Bud aufgeregt war, schnupperte er immer an seiner Faust, als wäre es eine preisgekrönte Rose. Er neigte außerdem zu der Angewohnheit, sein schuppiges Haar glatt zu streichen, indem er sich mit der linken Hand bis nach rechts über den Kopf fuhr wie ein Orang-Utan, ein Manöver, das seinen immerwährenden, großen Schwitzfleck in der Achselhöhle freilegte. Einmal stellte ich fest, dass ich einem Kunden zwei 25Cent-Stücke und einen Fingernagelschnipsel von Bud herausgab.
    Bill und Bud schienen sich vor Menschen zu fürchten, vor allen Menschen, außer ihnen selbst, und das war mit ein Grund, weshalb sie sich im Lagerraum versteckten. Der andere Grund war ihr permanentes Lesen. Sie lasen pausenlos. Sie hatten alles gelesen, was jemals geschrieben worden war, und sie waren versessen darauf, alles zu lesen, was jeden Monat neu herauskam, und zu diesem Zweck mussten sie sich von der Welt abschotten wie Mönche im Mittelalter. Obwohl beide Mitte dreißig waren, wohnten sie noch bei ihren Müttern, hatten nie geheiratet und strebten offenbar auch nicht an, auszuziehen oder zu heiraten. Abgesehen vom Lesen hatten sie kein Bedürfnis und außerhalb des Ladens keine Interessen, wobei ihr Interesse an mir von Tag zu Tag wuchs. Sie fragten nach meiner Mutter, meinem Vater, Onkel Charlie und den Männern; meine Beziehung zum Dickens faszinierte sie. Sie wollten wissen, warum Steve der Bar einen so literarischen Namen gegeben hatte, und daraus entwickelte sich ein Gespräch über Bücher allgemein. Bill und Bud kamen schnell dahinter, dass ich Bücher liebte, aber nicht sehr viel über sie wusste. Mittels einer Reihe rascher, bohrender Fragen fanden sie heraus, dass ich nur Das Dschungelbuch und die Minuten-Biografien gut kannte. Sie waren entsetzt und wütend auf meine Lehrer.
    »Was lest ihr gerade in der Schule?«, fragte Bill.
    »Scarlett s Letter«, sagte ich.
    Er legte eine Hand über die Augen. Bud schnupperte an seiner Faust. »Du meinst The Scarlet Letter«, sagte Bud. »Nicht Scarlett´s. Das ist nicht die Fortsetzung von Vom Winde verweht, sondern ein Roman von Nathaniel Hawthorne.«
    »Gefällt es dir?«, fragte Bill.
    »Bisschen langweilig«, sagte ich.
    »Natürlich«, sagte Bud. »Du hast keinen Bezugsrahmen. Du bist erst dreizehn.«
    »Eigentlich bin ich vierzehn, seit letztem …«
    »Du kennst nur Begierde und keine Scham«, sagte Bud.
    »Der Junge braucht eine gesunde Dosis Jack London«, sagte Bill zu Bud.
    »Vielleicht Twain?«, entgegnete Bud.
    »Vielleicht«, sagte Bill. »Aber der Junge ist von der Ostküste – er sollte New Yorker Schriftsteller lesen. Dos Passos. Wharton. Dreiser.«
    »Dreiserl Soil er vielleicht ein Zyniker werden wie du? Und Dos Passos liest niemand mehr. Dos Passos ist Dos Passé. Wenn er etwas über die Ostküste lesen soll, dann Cheever.«
    »Wer ist Cheever?«, fragte ich.
    Sie drehten sich langsam zu mir.
    »Damit wäre das geregelt«, sagte Bud.
    »Komm mit mir«, sagte Bill.
    Er führte mich in die Abteilung Prosaliteratur und zog jeden Titel von John Cheever aus dem Regal, auch die dicke, gerade veröffentlichte Sammlung von Kurzgeschichten. Dann brachte er die Bücher in den Lagerraum und riss rasch bei jedem den Einband ab. Es schien ihm richtig weh zu tun, als würde er einen Verband abreißen. Ich fragte, was er da mache. Er sagte, Buchläden könnten nicht jedes unverkaufte Taschenbuch an die Verlage zurückschicken – dazu hatten die Verlage gar nicht den Lagerraum – also schickten sie nur die Einbände zurück. Wenn Bill und Bud ein Buch wollten, rissen sie einfach den Einband ab und schickten ihn an den Verlag, der den Betrag an die Kette zurückerstattete, »und alle sind glücklich«. Er versicherte mir, das sei kein Diebstahl.

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