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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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geniale Gedanken. Ich trat in den Universitätsbuchladen und fiel fast in Ohnmacht, als ich die unzähligen Bücherwände sah. Ich setzte mich in eine Ecke und lauschte der Stille. Bill und Bud hatten mich nicht gewarnt. Sie hatten mir die Geschichte von Yale, erzählt, vom Reiz, den die Universität ausübte, aber auf die Ruhe hier hatten sie mich nicht vorbereitet. Sie hatten mir nicht erzählt, wie friedlich Yale war, die Welt, nach der ich mich sehnte. Wieder fingen die Glocken zu läuten an. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden geworfen und geweint.
    Im New Haven Park setzte ich mich unter eine ausladende Ulme und starrte auf den dreißig Meter langen Schutzwall um den Old Campus und versuchte mich auf die andere Seite zu denken. Es ging nicht. Von den vielen prächtigen Häusern, die ich von weitem bewundert hatte, war Yale das uneinnehmbarste. Eine Stunde später stand ich mühsam auf und ging langsam zum Sandwich-Laden zurück. Sheryl und Oma waren verärgert, weil ich so lange weg war. Meine Mutter sorgte sich um meine geistige Verfassung. Sie gab mir ein Geschenk, das sie im Souvenirladen gekauft hatte, einen Brieföffner mit den Yale-Insignien. »Damit kannst du deinen Zulassungsbrief öffnen«, sagte sie.
    Zurück in Manhasset, gingen meine Mutter und ich abends im Dickens essen. Steves Renovierung war abgeschlossen, die Bar hieß jetzt offiziell Publicans, war ein anderer Laden, feiner, mit Hummer auf der Speisekarte. Onkel Charlie stand hinter der Theke, in Khakihosen und Cashmere-Pullover mit V-Ausschnitt. Auch er hatte sich einer Renovierung unterzogen. Er kam an unseren Tisch und begrüßte uns. »Was ist denn mit dem los?«, fragte er meine Mutter und wies mit dem Kopf in meine Richtung.
    »Er hat sich heute in Yale verliebt«, sagte meine Mutter. »Und er denkt, seine Liebe wird nicht erwidert.«
    »Ist Bobo da?«, fragte ich ihn. Bobo und Wilbur konnten mich aufheitern.
    »Vermisst«, sagte Onkel Charlie.
    Ich ließ den Kopf hängen.
    Onkel Charlie zuckte die Schultern, ging wieder in die Bar zurück und verschwand durch einen Vorhang aus Rauch. Männer johlten bei seiner Rückkehr und wollten lautstark nachgefüllt haben. »Regt euch verdammt nochmal ab!«, sagte er. »Manchmal muss ich eben telefonieren.« Alle lachten. Ich musste ebenfalls lachen, gegen meinen Willen, und Überarbeitete meine Träume. Wenn Yale mich abwies, beschloss ich, würde ich ein kleines, unbekanntes College besuchen. Ich würde einen annehmbaren Abschluss machen, mich an eine juristische Fakultät mogeln und mir dann eine poplige Anwaltskanzlei suchen, die mich einstellte. Ich würde weniger verdienen als erhofft – weniger sein als erhofft –, aber wenn ich sparsam lebte, könnte ich mich vielleicht trotzdem um meine Mutter kümmern und sie aufs College schicken und meinen Vater verklagen. Und als Trost für meine Enttäuschungen würde ich jeden Abend, wenn ich von der Kanzlei zurückkam, auf ein paar Drinks im Publicans einkehren. Ich würde mich mit den Männern unterhalten und die Sorgen des Tages und Enttäuschungen des Lebens mit einem Lachen abtun. Während ich in die Bar starrte und zusah, wie Onkel Charlie Drinks einschenkte, wurde ich plötzlich ganz ruhig, denn ich wusste, in Yale würde man mich sicherlich ablehnen, im Publicans aber wäre ich jederzeit willkommen. Wenn ich das Licht und die Wahrheit von Yale nicht haben konnte, blieb mir immer noch die dunkle Wahrheit der Bar. Und nur manchmal, wenn ich zu viel – oder nicht genug-getrunken hatte, würde ich die Frage zulassen, was wohl gewesen wäre, wenn man mich in Yale genommen hätte.
     
     
     
     
16 | JR
     
    Zwei Schüsse aus kürzester Entfernung in die Brust, dann rannte der gesichtslose Täter davon. Meine Mutter und ich sahen das Ganze zusammen mit Millionen anderer Zuschauer. Der versuchte Mord an J.R. Ewing war das Ende der Staffel, der Cliffhanger von Dallas, der am häufigsten gesehenen Fernsehserie der Welt, und als J.R. Ewing zu Boden sank, die Hand auf der Wunde, wusste JR Moehringer, dass ihm ein langer heißer Sommer bevorstand.
    Die Identität von J.Rs Angreifer zu knacken wurde eine landesweite Sucht, und meine jugendliche Identitätskrise wurde zum täglichen Kreuzzug. Mein Vorname, den ich nur wenig mehr hasste als meinen Nachnamen, war plötzlich in aller Munde, prangte auf T-Shirts, Stoßstangen und Zeitschriftentitelseiten. Russische Panzer überrannten Afghanistan, zweiundfünfzig Amerikaner wurden im Iran als Geiseln

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