Tender Bar
gehalten, aber Thema Nummer eins im Sommer 1980 war J. R. Ewing. Jeder, der mir begegnete, konnte gar nicht schnell genug die entscheidende Frage loswerden: Wer hat auf dich geschossen? Oft lächelte ich, als würde ich die Frage zum ersten Mal hören, bevor ich eine hirnrissige Antwort gab. Tut mir leid – die Produzenten haben mich auf Verschwiegenheit verpflichtet. Manchmal verzerrte ich einfach nur das Gesicht und tat, als hätte ich eine Ladung Blei im Bauch. Die Leuten fanden das toll.
Als ich zu meinem Sommerbesuch nach Manhasset kam, grassierte das J.R.-Fieber. Ich freute mich auf belanglose Plaudereien und den Zweierreiher, aber Onkel Charlie und die Männer interessierten sich nur für Ewing-Fragen. »Wahrscheinlich Bobby«, sagte Onkel Charlie, der ausgestreckt im Liegestuhl lag, sein Kopf glänzte von Sonne und Kakaobutter wie eine Muschel. »Die Kain-und-Abel-Nummer. Älteste Geschichte überhaupt.«
»Nie und nimmer«, sagte Colt. »Bobby ist ein Schlappschwanz.«
»Sue Ellen hat den Mistkerl um die Ecke gebracht«, sagte Bobo.
»Ich hab gelesen, in Vegas geben sie schon Quoten auf die verschiedenen Verdächtigen aus«, sagte Joey D.
»Wie kann man wohl darauf Geld setzen?«, überlegte Onkel Charlie.
»Wenn es eine Möglichkeit gibt«, sagte Joey D, »wirst du sie finden.«
JR zu heißen, war nie einfach gewesen. Schon lange bevor auf J.R. Ewing geschossen wurde, hatte meinem Namen ein unfehlbarer Pawlowscher Aufforderungscharakter angehaftet, der immer, wenn ich jemanden kennen lernte, dieselbe Reaktion auslöste. Wofür steht JR? Da es mir peinlich war, nach einem verschwundenen Vater benannt zu sein, antwortete ich jahrelang ausweichend. Im Lauf der Zeit entwickelte ich eher aufs Äußerliche bezogene Gründe, die mich fürchten ließen, man könnte mich junior nennen. Junior war ein aufgeschossener, Latzhosen tragender Idiot aus der Kleinstadt, der auf einem Fässchen vor dem Gemischtwarenladen Dame spielte. Junior war das Gegenteil von allem, was ich werden wollte. Um mich von diesem Image zu distanzieren, um Möchtegern-Spitznamengeber abzuwehren, um das Schreckgespenst meines Vaters zu verbergen, wechselte ich von Ausflüchten zu einer einzigen großen Lüge. »JR steht für gar nichts«, erzählte ich den Leuten. »JR ist schlicht und einfach mein Vorname.«
Das war teilweise wahr. Mit JR – ohne Punkte – unterschrieb ich sämtliche Dokumente. Auf meiner Geburtsurkunde stand ein J neben einem R. Ich verschwieg lediglich, dass die Buchstaben eine Abkürzung am Ende meines Namens waren und die große Leerstelle in meinem Leben symbolisierten.
Jahrelang hatte die Lüge wunderbar funktioniert und alle Fragesteller wirksam abgewimmelt – bis Dallas. Jetzt ließen sich die Leute nicht mehr so leicht abspeisen-jemanden zu kennen, der JR hieß, war einfach zu köstlich, so als würde man jemanden kennen lernen, der FDR hieß – und wenn sie mich löcherten und belästigten, musste ich mir gezwungenermaßen eine noch größere Lüge zurechtbasteln. »Ich wurde kurz nach der Ermordung John F. Kennedys gezeugt«, sagte ich, »und meine Eltern konnten sich nicht entscheiden, nach welchem Kennedy sie mich nennen sollten – John oder Robert. Sie waren hin und her gerissen. Also erfanden sie einen Namen, der für beide stand. JR. Ohne Punkte.«
Als der Hype um Dallas zur Hysterie wurde, schaltete ich auf Autopilot und erzählte meine Lüge im zombiemäßigen Leierton eines Schulkindes, das den Treueeid rezitiert. Wieder fand ich Zuflucht in meiner Lüge – bis Yale mir eine weitere Herausforderung stellte. Nachdem ich die Bewerbungsunterlagen angefordert hatte, erklärte ich meiner Mutter in einem Brief, dass ich beabsichtigte, oben auf die erste Seite JR Moehringer zu tippen, ohne Punkte. Ich erhielt postwendend Antwort. »Du darfst dich nicht unter einem falschen Namen für Yale bewerben.« Du hast mich dazu gebracht, ihn anzunehmen, dachte ich. Aber sie hatte recht. Ich wollte nichts tun, was meine Chancen verringerte. Für Yale, und nur für Yale, nahm ich es in Kauf, John Joseph Moehringer Jr. zu sein, ein Name, der mir genauso fremd war wie Engelbert Humperdinck.
Immer wenn mein Name in jenem Sommer erwähnt oder die Frage diskutiert wurde, wofür JR stehe, tauchte die Erinnerung an meinen Vater wieder auf. Ich fragte mich, wo er sein mochte. Ich fragte mich, ob er noch lebte und wenn nicht, wie ich es jemals erfahren sollte. Oft saß ich abends, wenn Opa und Oma längst im Bett
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