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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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lagen, heimlich am Küchentisch und lauschte dem Radio. Nachdem ich geglaubt hatte, meine alte Sucht besiegt zu haben, war ich wieder schwach geworden, und ich schämte mich für diesen Rückfall. Ich hätte gern mit jemandem darüber geredet, aber es gab niemanden. Bei Oma wollte ich das Thema nicht anschneiden, denn sie hätte mich nur geschimpft und dann meiner Mutter geschrieben. Ich versuchte mit McGraw darüber zu reden, aber je älter er wurde, umso weniger war er bereit, die Vaterproblematik zu diskutieren. »Ich fürchte, wenn ich erst mal anfange«, sagte er, »kann ich nicht mehr aufhören.«
    Ich hätte gern mit Onkel Charlie darüber gesprochen, aber der wurde in diesem Sommer von seinen eigenen Stimmen gequält. Als ich einmal spätabends in der Küche saß, Radio hörte und las, hörte ich die Haustür aufgehen, dann schwere Schritte, als würde jemand Küchenschaben im Esszimmer zertreten. Onkel Charlie erschien krachend in der Küchentür. Ich roch die Whiskeyfahne aus zwei Metern Entfernung. »Wen haben wir denn da«, sagte er. »Wen haben wir denn da, wen haben wir denn da. Was sagsu dasu? Hätte nich gedacht, dass noch einer auf is.«
    Er zog einen Stuhl laut scharrend unterm Tisch vor. Ich schaltete das Radio aus. »Wie geht’s so?«, fragte ich.
    Er setzte sich, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Über-legte. Zündete ein Streichholz an. Überlegte noch länger. »JR«, sagte er und legte eine Pause ein, um die Flamme an die Zigarette zu halten, »die Leute sind Abschaum.«
    Ich musste lachen. Er riss den Kopf hoch und starrte mich an. »Du denkst, ich scherze?«
    »Nein.«
    »JR, JR, IR. Dein Onkel ist ein sehr einfühlsamer Mann. Kapiert?«
    »Ja.«
    »Wer ist einfühlsamer wie ich?«
    »Niemand.«
    »Entschuldige, schlechte Grammatik. Wer ist einfühlsamer – als ich?«
    »Niemand.«
    »Darauf kannst du wetten. Ich hab Psychologie studiert, kleiner Freund. Hab alles gelesen. Vergiss das nicht. In diese Augen kann keiner Sand streuen.« Er zeigte auf seine Augen, die an zwei getrocknete Blutstropfen erinnerten, dann setzte er zu einer langen unverständlichen Geschichte über jemanden an – Namen nannte er nicht – der offenbar nicht das angemessene Mitgefühl für Pats am Ende erduldetes Leiden aufgebracht hatte. Onkel Charlie hasste denjenigen, hasste jeden, hasste die ganze verdammte Welt und wollte demnächst allen gehörig die Meinung sagen. Er haute auf den Tisch, zeigte aufs Fenster, auf die herzlose Welt draußen, während er über den »elenden Drecksack« herzog, der Pats Andenken entehrt hatte. Ich war entsetzt, aber auch fasziniert. Mir war neu, dass Onkel Charlie auch wütend sein konnte, und mir war neu, dass man auch wütend ins Publicans gehen konnte. In meiner Vorstellung gingen Leute in die Bar, wenn sie traurig waren und dort wurden sie dann wieder glücklich, Punkt. Eine schlichte Transaktion. Und wenngleich ich befürchtete, Onkel Charlie könnte mich vor Wut jeden Moment an die Wand klatschen, wurde ich den Gedanken nicht los, dass Wut etwas war, das uns verband. Ich war immer wütend – über den Gesundheitszustand meiner Mutter, über meinen Namen – und kurz bevor Onkel Charlie zur Tür hereingekommen war, war ich über meinen Vater wütend gewesen.
    Dass ich mit keinem über meine Wut reden konnte, verdreifachte sie nur, und an manchen Tagen hatte ich das Gefühl, ich könnte vor Wut in Flammen aufgehen. Ja, hätte ich am liebsten gesagt, ja, lassen wir unserer Wut freien Lauf. Hauen wir diese verdammte Küche kurz und klein!
    »JR, hörst du mich?«
    Erschrocken fuhr ich hoch. Onkel Charlie sah mich finster an. »Ja«, log ich. »Ich höre dich. Kapiert.«
    Die Asche an seiner Zigarette musste abgestreift werden. Er merkte es nicht. Er nahm einen Zug, die Asche fiel auf seine Brust. »Ach, keiner interessiert sich dafür«, sagte er und fing zu weinen an. Tränen tropften hinter seiner dunklen Brille über die Wangen. Ich kam mir mies und egoistisch vor, dass ich an meine eigene Wut gedacht und Onkel Charlie nicht meine volle Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
    »Doch, mich interessiert es«, sagte ich.
    Er blickte auf. Ein mattes Lächeln. Er trocknete die Tränen und er-zählte mir, wie er Pat zum ersten Mal in einer Kneipe an der Plandome Road begegnet war. Sie kam quer durch die Bar und kritisierte ihn wegen seinem Hut und der Sonnenbrille. »Du Scheißkerl«, sagte sie. »Du besitzt die Unverschämtheit, dich wegen deiner fehlenden Haare zu

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