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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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der Bar vorstellen. Er wirkte zu groß und stark, zu mythisch, um bei helllichtem Tag auf der Straße zu gehen. Ich merkte, dass ich zum ersten Mal seit Monaten keine Angst hatte, so als würde Cagers Mut auf mich abfärben. Cager war ansteckend. Er war durch die Feuer der Hölle gegangen und mit heilem Verstand und Sinn für Humor zurückgekehrt, und allein neben ihm zu stehen, stimmte mich zuversichtlich, was meine eigenen kleinen Schlachten anging. Ich empfand die gleiche Euphorie wie beim Lesen der Ilias. Im Grunde ergänzten die Bar und das Gedicht einander wie Gegenstücke. Beide standen für die zeitlosen Wahrheiten über Männer. Cager war mein Hektor. Onkel Charlie mein Ajax. Smelly mein Achilles. Zeilen aus Homers Epos fielen mir wieder ein und ich hörte sie ganz neu. »Denn mit vereinter Kraft«, schrieb Homer, »sind selbst die Schwächlichen mutig.« Wie sollte man eine solche Zeile auch nur annähernd nachempfinden können, solange man Cager kein Budweiser spendiert und seiner Kriegsgeschichte zugehört hatte? Und das Beste war, wenn Cager nichts mehr sagte, musste ich nicht irgendeinem satanischen Professor beweisen, dass ich jedes Wort aufgenommen und gelernt hatte, was von mir erwartet wurde.
    Und dennoch war ich an jenem Abend in erster Linie ein Student, der sich die Bemerkungen von Lager und anderen Männern notierte, ihre Geschichten und bissigen Kommentare. Ich schrieb mir mehr auf als in Professor Luzifers Seminar, denn ich wollte nichts vergessen. Seltsamerweise verschwendeten die Männer keine Gedanken daran, warum ich mir Notizen machte. Sie verhielten sich eher so, als hätten sie sich schon lange gefragt, wann endlich jemand ihre hart erworbenen Weisheiten festhalten würde.
    Um drei Uhr morgens »schloss« die Bar, aber keiner machte Anstalten zu gehen. Onkel Charlie sperrte die Türen zu, schenkte sich einen Sambuca ein und lehnte sich zurück. Er sah kaputt aus. Er fragte, wie es mir an der Uni ging. Er merkte, dass etwas nicht stimmte. Raus damit, sagte er. Den ganzen Abend schon war mir aufgefallen, dass Onkel Charlie neben den vielen witzigen Rollen, die er hinter der Bar spielte, auch eine ernste verkörperte. Er war der Oberste Bundesrichter im Publicans. Er war Goose, der Gesetzgeber. Die Leute traten an ihn mit Problemen und Fragen heran, und er gab den ganzen Abend Entscheidungen ab. Manchmal erhob jemand Einspruch. Dann sprach er sein endgültiges Urteil, knallte eine Flasche auf die Theke wie einen Hammer und zeigte auf die Brust des Beschwerdeführers. Fall abgeschlossen. Ich trug also meine Zusammenfassung vor, oder besser, ich setzte dazu an. Ein Mann mit einer Vokuhila – einer gewaltigen Vokuhila, einer beinahe doppelten Vokuhila – mischte sich ein. Er lümmelte sich an die Theke und maunzte Onkel Charlie an: »Einen für unterwegs, Goose?«
    »Moment noch«, knurrte Onkel Charlie. »Ich unterhalte mich gerade mit meinem Neffen über Schulprobleme.«
    Vokuhila wandte sich zu mir. Er schien um mein Wohlergehen besorgt. Ich war nicht scharf darauf, meine Seele vor Vokuhila zu entblö- ßen, aber irgendwie blieb mir keine andere Wahl. Und ich wollte nicht unhöflich sein. Ich erzählte ihm und Onkel Charlie von meinem Unterlegenheitsgefühl gegenüber meinen Mitschülern und insbesondere meinen Zimmergenossen, von denen einer sogar schon ein Buch veröffentlicht hatte. Ein anderer hatte im Sommer am Memorial Sloan-Kettering Cancer Center, einer der führenden Einrichtungen zur Krebsforschung, gearbeitet. »Eine Form der Leukämie wurde nach ihm benannt«, sagte ich. »Man kann an etwas sterben, das nach meinem Zimmergenossen benannt ist.« Dann war da ein Junge, der die meisten Tragödien von Shakespeare auswendig kannte. Er konnte bei jedem Anlass eine markige Zeile des großen Barden zitieren, wohingegen ich schon Glück hatte, wenn ich nicht vergaß, dass Hamlet aus Dänemark stammte. Schließlich war da noch Jedd der Zweite, der im Laufe des Schuljahrs immer selbstbewusster zu werden schien.
    »Verstehe«, sagte Onkel Charlie. »Du fühlst dich eingeschüchtert, weil du dein Leben mit einer Zwei und einer Sieben in verschiedenen Farben angefangen hast.«
    »Wie bitte?«
    »Eine Zwei und eine Sieben in verschiedenen Farben ist so ziemlich das mieseste Blatt, das du beim Pokern haben kannst.«
    »Das kann ich nicht beurteilen«, sagte ich. »Ich komme mir nur vor wie – ein Fisch ohne Wasser.«
    »Ich mir auch«, sagte Vokuhila. Wir sahen ihn beide an. »Ich komme mir

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