Terra Anchronos (German Edition)
sofort sein Messer aus der Hosentasche und zerschnitt die Bänder. Es war herrlich, die Nase in das duftende Heu zu stecken, der Mutter einige Halme aus dem Haar zu ziehen und gedankenverloren darauf zu kauen. Arne nahm die Decke von seinen Schultern und breitete sie über das weiche Lager, das die Mutter vorbereitet hatte. Eng aneinandergeschmiegt flüsterten die beiden noch eine geraume Weile, bis der Schlaf sie vom langen Warten erlöste.
Als Arne die Augen aufschlug, war der Platz neben ihm leer. Noch ziemlich verschlafen ging er, die letzte Müdigkeit aus den Augen reibend, zum Fenster und sah hinaus. Vom Sturm der vergangenen Nacht war nicht viel übrig geblieben. Zwar wehte noch immer ein frischer Wind und die Nordsee schäumte aufgewühlt. Doch der Himmel war klar und blau, als sei nie etwas Besorgniserregendes gewesen. Arne öffnete das Fenster und sah hinunter in den Hof. Eben kam die Mutter mit einem großen Tablett voller Brot mit Schinken, Wurst und Käse aus dem Haus. Einen Becher dampfenden Kakao konnte er ebenfalls erkennen.
In Windeseile setzte der Junge sich auf den Thron, zog den Tisch zu sich heran und wartete. Er kam sich vor wie der König von Tonga, der im Leben keine Sorge zu erdulden hat.
Tatsächlich schien auch die Sorge von der Mutter abgefallen zu sein. Sie strahlte und lachte, stellte das Tablett mit Schwung vor Arne auf den Tisch, dass der Kakao über den Rand des Bechers schwappte, und sah eine Weile zu, wie der Junge herzhaft zulangte.
„Dein Vater hat angerufen“, sagte sie schließlich.
Arne konnte seine Freude nicht verbergen, auch wenn kein Ton über seine Lippen kam. Mit vollen Backen kaute er auf dem frischen Brot und strahlte mit seiner Mutter um die Wette. Vergessen war alles.
Immer war es so, dass der Vater mit der Kutsche kam. Eigentlich war sie für die sommerlichen Touristen vorgesehen, doch Arnes Vater wollte von der langen Reise, die ja immerhin fast ein halbes Jahr gedauert hatte, langsam heimkehren. Er wollte die Landschaft genießen und sehen, was sich während seiner Abwesenheit verändert hatte. So benötigte er für die letzte Strecke nach Hause zwar mehr Zeit, doch kam es darauf an? Bestimmt nicht. Er freute sich sogar darüber, dass die Heimkehr etwas länger dauerte, denn so konnte er schon von Weitem seine geliebte Frau und den Sohn sehen, die auf dem Hof des Hauses nebeneinanderstanden und warteten.
Für den Kapitän gab es nichts Schöneres als die Gewissheit, dass es Menschen gab, die ihn sehnsüchtig willkommen hießen und schon zu winken begannen, bevor die Gesichter deutlich zu erkennen waren. Diese freudige Erwartung war es, die ihn immer wieder dazu trieb, statt mit dem Taxi zu kommen, die langsame Kutsche in Anspruch zu nehmen. Und wenn der Kutscher auf dem Hof die Zügel anzog, war der Seemann auch tatsächlich zu Hause angekommen.
Arnes Vater ließ sich vom Kutscher helfen, die Koffer abzuladen. Dazu muss gesagt werden, dass selbst echte Kapitäne heutzutage nicht mehr mit einem Seesack auf Reisen gehen. Immerhin befinden wir uns in einer modernen Zeit, in der es Autos gibt.
Es wird auch nicht mehr mit Segelschiffen zur See gefahren. Arnes Vater trug die Verantwortung für ein über zweihundert Meter langes und fast dreißig Meter breites Containerschiff. Trotzdem, das sei zur Ehrenrettung gesagt, sprach er immer davon, wieder segeln zu müssen, wenn er zur nächsten Reise aufbrach.
Der Kapitän hatte also auch an diesem Tag wieder die Kutsche genommen. Während der Kutscher noch den letzten Koffer auf den Boden stellte, standen Arne und seine Mutter fast bewegungslos in einiger Entfernung. Erst als der Vater langsam die Hand zum Gruß hob, rührte Arne sich und erwiderte die Geste. Ganz so, als begegne er einem Fremden. Fast unbeteiligt.
Dann, so wollte es das Ritual der Heimkehr, fragte der Vater mit seiner tiefen, wohltönenden Stimme: „Ich suche einen gewissen Arne. Bin ich hier an der richtigen Adresse?“
„Sie haben ihn gefunden, Herr Kapitän.“ Kaum ausgesprochen, löste sich Arne aus der abwartenden Haltung. Der Boden donnerte unter seinen Füßen.
Mit ausgebreiteten Armen und lautem Jubelgeschrei flog er dem Seemann entgegen und ließ sich vom geliebten Vater auffangen. Erst dann machte auch die Mutter die wenigen Schritte auf ihren Mann zu. Endlich war die Familie wieder vereint.
Was weder Arne noch seine Mutter bemerkt hatten und auch dem Vater für die kurze Zeit der Begrüßung aus dem Bewusstsein verdrängt war,
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