Terra Mater
Beweise der Existenz der mythologischen Vögel könnten einen schädlichen Einfluss auf das Seelenleben ihrer Schäfchen haben. Denn das fragile Gerüst der Lehre des Abyner Elian basierte auf blindem Glauben und Gehorsam. Hätte das erwählte Volk also die Möglichkeit gehabt, die drei Xaxas der verbotenen Zone des Golan-Zirkus’ anzubeten, hätten sie sich womöglich von seinem heiligen Wort abgewandt. Aus der Geschichte vom Goldenen Kalb, die in der antiken Bibel der Erde erzählt wurde, hatten sie ihre Lehre
gezogen. Das ursprüngliche Volk der Phraëler hatte schon die Neigung gezeigt, die heiligen Gebote zu missachten und Idole anzubeten. Doch ein paar Wochen vor dem großen Aufbruch hatten die Abyner und die Prinzen beschlossen, die Existenz der drei Tiere zu enthüllen, damit sich das Volk mit dem Aussehen seines Transportmittels vertraut machen konnte.
Also wurden alle einhundertvierzigtausend Jersaleminer aus der unterirdischen Stadt Elian, wohlverpackt in Tigerbärenfelle, mit Eisschlitten (Pendelfahrzeuge, die mit Kufen und Sonnensegeln ausgerüstet waren) zu den himmlischen Zugvögeln gebracht.
Der Größte maß fünfzehn Meter vom Kopf bis zum Schwanz, der aus einer knorpelartigen, gleich einem Fächer ausgebreiteten Membran bestand. Der ovale Schädel hatte drei ringförmige Höcker auf der Oberseite. Die beiden anderen Exemplare sahen genauso aus, nur dass sie etwa zwischen sechs und sieben Meter groß waren: ein schlanker, leicht gewölbter Körper, ein rauer, buckliger Panzer von dunklem Braun, manchmal schwarz, der wie Rost aussah. Trotz der dicken Eisschicht zwischen den Xaxas und den Betrachtern waren in den Panzern blaugrüne Kristalle zu erkennen.
Auf Anfrage der Bevölkerung, welcher Natur diese Kristalle seien, wussten die Gelehrten keine Antwort. Sie vermuteten, dass diese durchsichtigen Ausbuchtungen interstellare Ströme auffingen und sie in Bewegungsenergie umwandelten und den Xaxas auf diese Weise erlaubten, eine Geschwindigkeit zu erreichen, die sie in eine andere Zeitdimension transportierte.
Weder ihre Herkunft noch ihre Lebensweise, ihre Reproduktionsorgane, ihre Fähigkeit, im Weltraum zu existieren,
oder ihr Stoffwechsel waren geklärt. Forscher hatten verlangt, einen der Vögel sezieren zu dürfen, um die biologischen Mechanismen dieses Körpers zu verstehen und künstliche Xaxas herstellen zu können, sollten sich die Prophezeiungen der Neuen Bibel als unzutreffend erweisen.
Doch der Rat der Abyner hatte diese Bitte den Forschern nicht nur abgeschlagen, sondern sie auch den wilden Tigerbären im Zirkus der Tränen zum Fraß vorwerfen lassen – wehe dem, der die heiligen Schriften anzweifelt!
Der wahre Beweggrund der Ayner war jedoch die Furcht, es könnte ein menschlicher Körper in den Xaxas entdeckt werden, vielleicht der Leichnam des Abyners Elian … Eine solche Entdeckung hätte das gesamte Glaubenskonstrukt der Jersaleminer wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen lassen.
Die Erwählten versuchten nun, die heilige Öffnung der Zugvögel auszumachen, die im Unterbauch, in der Nähe des Schwanzes, vermutet wurde. Aber die eng anliegenden Flügel verhinderten jegliche Sicht. Man vermied geflissentlich, diese Öffnung Anus zu nennen, denn einerseits wusste niemand, ob die Xaxas über ein Verdauungssystem verfügten, und andererseits war es nicht sehr ruhmvoll, das Paradies dem Arschloch eines Tiers zu verdanken, selbst wenn es sich um einen Vogel der Mythologie handelte.
Wie die Exegeten der Neuen Bibel verkündeten, rasteten die himmlischen Zugvögel nur wenige Minuten auf den Gletschern, die Zeit, während der ihre ersten Bewohner, die göttlichen Chrysaliden, aus ihren Körpern schlüpften und sich in Schmetterlinge des Lichts verwandelten.
Deshalb musste alles sehr schnell geschehen: Man musste sich ausziehen, die Öffnung im Unterbauch finden, hineinschlüpfen und sich bis ins Innere vortasten. Dort musste
man sich hinlegen und warten, bis sich der Xaxas an seinen Parasiten gewöhnt hatte. Die Schriftgelehrten behaupteten, er verfüge für die Dauer der Weltraumreise über genügend Wasser und Sauerstoff – also vierzig Tage. Deshalb fasteten die Jersaleminer bereits von Kindheit an einmal im Jahr vierzig Tage während des sogenannten »Radan«. Diese Fastenzeit war ihnen zur zweiten Natur geworden.
Außerdem herrschte bei diesem Volk eine strenge Geburtenkontrolle. Nicht mehr als zwei Kinder waren erlaubt. Eine Regel, die nur durchbrochen werden durfte,
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