Terra Mater
um Verstorbene, Männer, die bei Stammeskämpfen getötet wurden, hingerichtete Rebellen oder zum Tode verurteilte sündige Frauen zu ersetzen. Diese von einer Gruppe lediger Frauen überwachte Kontrolle hatte eine Doppelfunktion: erstens, die heilige Zahl der einhundertvierzigtausend Erwählten zu bewahren und zweitens, eine Übervölkerung Jer Salems, das arm an Ressourcen war, zu verhindern.
Im Jahr 6400 hatten viele Familien gegen dieses Gebot verstoßen, und bald war die Bevölkerung auf katastrophale zweihundertzwanzigtausend angewachsen, eine Zahl, die nicht mehr ausreichend ernährt werden konnte. Daraufhin hatten die großen Abyner beschlossen, die ursprüngliche Zahl durch eine drastische Maßnahme wiederherzustellen. Die Wachen der vierzig Prinzen hatten die schuldigen Familien auf das Plateau des Phraël-Gletschers eskortiert und sie dort mit dem Schwert gerichtet. Noch immer war der Gletscher vom Blut der Hingerichteten purpurrot und bis zum heutigen Tag Tabuzone. Doch im kollektiven Gedächtnis lebte diese als »Der unheilvolle Tag der Achtzigtausend« bekannte Episode fort als eine noch immer offene Wunde.
Die unterirdische Stadt Elian war von fieberhafter Aktivität erfüllt. Der bevorstehende Exodus elektrisierte die
Jersaleminer derart, dass sie keinen Schlaf mehr fanden. Sie spazierten nachts über die Straßen – gewölbte, in den Gletscher gehauene und mit schwebenden Licht-Kugeln beleuchtete Gänge. Überall standen sie in Gruppen beisammen und diskutierten. Noch nie hatte dieses ansonsten ernste Volk so viel gelacht. Während dieser historischen Stunden wollte niemand allein sein, jeder wollte seine Freude und seinen Stolz mit anderen teilen. Bald würden sie die Berge, die stummen Zeugen ihrer einstigen Grausamkeit, hinter sich lassen und auf dem himmlischen Jer Salem von allen Sünden reingewaschen werden. Sie würden ganz in der Nähe ihrer Götter und ihrer alten Propheten leben, im Paradies.
Nur ein Stamm teilte die allgemeine Fröhlichkeit nicht. Mehr als tausend Amerikaner standen vor dem Hauptportal des Thorials und warten auf den Schiedsspruch, der für ihre Zukunft entscheidend sein würde. Säulen schmückten die vier Wände des riesigen Eisblocks, aus dem man den Ratssaal herausgeschnitten hatte. Sich bewegende, am Sims befestigte Projektoren schickten ihre Lichtstrahlen über glatte Eisflächen und die dunklen Öffnungen der Avenuen der Stadt. Neben dem Thorial stand der Tempel Salmons mit seiner fein ziselierten Kuppel und den Türmen, das imposanteste Bauwerk Elians, in dem die beiden heiligen Glebas standen.
Während der Feierlichkeiten zur Sonnen- oder Mondfinsternis fanden mehr als dreißigtausend Personen in seinem Inneren Platz. Im Laufe der Jahrtausende war er durch Gletscherbewegungen mehrmals beschädigt worden und hatte an manchen Stellen völlig neu errichtet werden müssen. Die meisten jersaleminischen Männer waren mit der Instandhaltung der Stadt und des Tempels sowie den ständigen
Anbauten und Verschönerungsarbeiten daran beschäftigt. Es wurden Skulpturen herausgearbeitet und Mosaike aus Glas hergestellt, die mit ausgeklügelten Beleuchtungsmethoden zu prächtigen Fenstern wurden …
Die junge Frau vom Stamm der Amerikaner, Phoenix, klappte den Kragen ihres Mantels aus weißem Tigerbärenfell hoch. Schon seit Stunden stand sie auf der Eisfläche vor dem Thorial, und ihre Füße wurden trotz der Pelzstiefel kalt. Den in den Pfeilern des Tempels bestatteten Frauen und Männern schenkte sie nur einen zerstreuten Blick. Die Körper der Frauen waren intakt, nur das Entsetzen konnte man noch in ihren Augen lesen, man hätte sie für Statuen halten können. Doch die Männer waren kastriert worden, ehe man sie in die Pfeiler eingegossen hatte; und das hervorgetretene Blut hatte sich wie eine purpurne gefrorene Wolke um ihre Hüften gelegt.
Vor seiner Verbannung hatte San Francisco Phoenix erklärt, warum diese Menschen verurteilt worden waren.
»Sie sind die ersten Opfer der Religion der Gleba. Seit siebentausenddreihundert Jahren müssen diese Armen auf den Platz des Thorials starren. Und das alles, weil sie während einer Reise auf Franzia sexuelle Beziehungen zu Gocks gehabt haben … Das habe ich im Buch des Altertums gelesen …«
Mehr hatte San Francisco nicht gesagt, wohl um sie nicht zu gefährden. Aber Phoenix hatte begriffen, dass weder der Kopf noch das Herz des Prinzen mit der abynischen Auslegung der Neuen Bibel einverstanden war. Doch sie
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