Terra Mater
Horizont untergegangen, ein Zeichen der nahen Morgendämmerung. Die Umrisse der Hauptstadt Venicia lagen im Zwielicht, nur die erleuchteten Wachtürme der Gedanken waren deutlich zu erkennen.
»Mein Traum heute Nacht betrifft den Seneschall Harkot«, sprach Dame Sibrit weiter.
»Ein bemerkenswertes Wesen!«, unterbrach Menati sie sofort. »Ergeben, klarsichtig, diskret … Ich kann seine Arbeit nur loben.«
»Ein niederträchtiges, furchterregendes Wesen!«, korrigierte Dame Sibrit ihren Gemahl. »Und Harkot hat keineswegs die Absicht, Euch zu dienen … weder Euch noch der Menschheit …«
Der Imperator stand abrupt auf und ging ein paar Schritte hin und her. Das Steinsalz knirschte unter seinen Füßen, die Zipfel des Capes umflatterten seine nackten Beine.
»Mäßigt Eure Worte, Madame! Ihr sprecht nicht mit Euren Dienstboten und riskiert, in große Gefahr zu geraten, solltet Ihr Euch in die Staatsgeschäfte mischen. Ihr könnt aus Eurer Position heraus die Interessen des Ang-Imperiums nicht beurteilen.«
»Ein weiser Herrscher lässt sich von allen Seiten beraten, Monseigneur, und trifft seine Entscheidungen nach reiflicher Überlegung.«
Menati blieb stehen und lachte hämisch. »Was weißt du schon von Herrschern, kleine Provinzlerin! Eigentlich hättest
du doch dein ganzes Leben in der Jauchegrube der Schigaline deines Vaters verbringen müssen.«
»Die Schigaline haben den Menschen gegenüber einen Vorteil«, antwortete Dame Sibrit, ohne darauf einzugehen, dass sie von ihrem Gatten beleidigenderweise geduzt wurde. »Sie enthüllen gnadenlos den Wert ihres Reiters. Ihr, Monseigneur, wisst nicht mehr, was Ihr wert seid. Eure sogenannten Ratgeber sind nichts als Kriecher, Meister in der Kunst, Euch nach dem Mund zu reden, damit sie ihre Pfründe behalten können. Sie tun alles, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, doch hinter Eurem Rücken verleumden sie Euch … Doch ich sage Euch die Wahrheit, auch wenn sie Euch nicht gefällt. Solltet Ihr sie akzeptieren, könnt Ihr den Lauf der Ereignisse verändern und die Menschheit vor der größten Katastrophe retten. Euer Name wird in die Geschichte als der eines großen Mannes eingehen …«
»Verratet mir zuerst, welches Eure Interessen in dieser Affäre sind, Madame. Denn die Vermutung liegt nahe, dass Ihr mich nicht zum Retter der Menschheit machen wollt, ohne Profit daraus zu ziehen.«
»Ihr täuscht Euch in mir, so wie Ihr Euch in dem Seneschall täuscht.«
»Na, dann sprich doch endlich diese angebliche Wahrheit aus, damit wir ein Ende machen. Ich bin müde und will vor dem Morgen noch etwas ruhen.«
»Ihr schlaft jetzt schon seit sechzehn Jahren, Monseigneur! Wir alle schlafen! Vor sechzehn Jahren habt Ihr die Schlüssel Eures Imperiums dem Seneschall Harkot übergeben … Während Ihr Euch mit Euren Huren vergnügt, macht sich der Seneschall in seinem Geheimlabor ans Werk. Vor kurzem hat er sich mit jemandem im Keller des Palastes Ferkti-Ang getroffen … Wisst Ihr, mit wem?«
Der Imperator schüttelte den Kopf.
»Mit Pamynx, dem Ex-Konnetabel des Seigneurs Ranti«, erklärte Dame Sibrit.
Menati lachte schallend. »Fast hätte ich dir geglaubt, aber jetzt erzählst du mir etwas völlig Verrücktes! Ich selbst habe Pamynx in den Deremat gesetzt, der ihn in seine Heimat Hyponeros brachte.«
»Ist es vielmehr nicht so, dass Ihr einen Scaythen von Hyponeros in diesen Deremat gesetzt habt, Monseigneur? Außerdem sehen sich alle Scaythen zum Verwechseln ähnlich, und Pamynx wäre durchaus imstande gewesen, auf Syracusa zurückzukehren …«
»Es reicht!«, zischte Menati. »Du wirst jetzt denselben Weg wie Dame Veronit gehen. Mit etwas Glück begegnest du ihr auf dem Flur und kannst mit ihr über ihren fetten Arsch reden.«
In dem Moment begriff Dame Sibrit, dass ihr Unterfangen zum Scheitern verurteilt war, weil die Reaktion des Imperators nur die logische Konsequenz des Handelns der Auslöscher-Scaythen in dem Kellergewölbe war.
In ihrem Traum hatte sie gesehen, wie sich Harkot und Pamynx auf widerliche Weise küssten. Weiter hatte sie gesehen, wie die Gedankenschützer-Scaythen, von einem stummen Impuls getrieben, sich ebenfalls in die Kellergewölbe des alten Palastes aufmachten. Dort zogen sie ihre weißen Kapuzenmäntel aus und stiegen in einen mit einer dicklichen, kochenden Flüssigkeit gefüllten Bottich. Ihre Körper lösten sich darin wie schmelzende Kristalle auf. Harkot, in seinem blauen Kapuzenmantel, überwachte das
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