Terra Mater
bewohnbar.
»Yelle!«
Aphykit lief auf ihre Tochter zu, hob sie auf und drückte sie lachend und weinend zugleich an sich.
»Yelle! Wo warst du? Ich hatte so viel Angst, Angst, dass …«
Über die Schulter ihrer Mutter starrte Yelle ihren Vater an. Ihre blaugrauen Augen in ihrem ausgezehrten Gesicht wirkten übergroß. In ihrem Haar und ihren Kleidern steckten kleine Äste, und sie war schmutzig.
»Wirst du in das Land gehen, wo der Blouf wohnt, Papa?«
Tixu nickte langsam.
»Ich werde nie wieder weinen«, sagte Yelle, »denn ich habe alle Tränen meines Lebens in drei Tagen geweint. Und der Himmel hat mit mir geweint. Wir werden sehr traurig sein,
wenn du fortgehst … Aber es muss sein … Gestern Abend sind schon wieder Tausende Sterne verschwunden …«
»Wovon sprichst du, Yelle?«, fragte Aphykit und stellte ihre Tochter auf den Boden.
Tixu antwortete: »Die Menschheit kann nicht mehr warten. Ich mache mich zu einem Ort auf und weiß nicht, ob ich von dort wiederkehre. Ich muss für die Menschheit gegen den Blouf kämpfen, gegen Hyponeros … Shari wird mir helfen …«
»Er wird dir nicht helfen«, unterbrach Yelle ihren Vater mit schneidender Stimme. »Er liebt dich, aber er wird dich bekämpfen.«
»Warum sollte er gegen mich kämpfen? Er ist ein Mensch, wie ich, wie wir … Er ist unser Adoptivsohn, dein großer Bruder.«
»Aber du, Papa, wirst du immer ein Mensch bleiben, wie er, wie wir?«
Nachdem Yelle diese fürchterlichen Worte gesprochen hatte, ging sie zu ihrem Vater und legte sanft den Kopf auf seinen Bauch. Diese für Yelle so ungewöhnlich zärtliche Geste rührte Aphykit zutiefst und überzeugte sie mehr als alle Worte, dass Tixu bald fortgehen würde.
Der Mann, den sie vor Jahren in der Reiseagentur der InTra verachtet hatte, der sich unter Lebensgefahr auf die Suche nach ihr begeben und sie aus den Händen der Menschenhändler auf Roter Punkt und vor den Scaythen auf Selp Dik gerettet hatte. Sie hatte ihn zuerst gehasst, dann aber auf der Insel der Monager hatte sie ihn geliebt. Tixu, ihr Geliebter, er würde ihr genommen werden! Sein Körper hatte es ihr gestern gesagt, aber ihre Angst, Erschöpfung und Lust hatten diese Gewissheit verdrängt. Ihr Herz war kurz davor zu zerspringen.
Aphykit konnte nicht mehr weinen. Ihre Tränen waren, ebenso wie die ihrer Tochter, versiegt. Es musste so sein. Nicht umsonst hatten die Pilger sie Naïa Phykit – Mutter des Universums – genannt. Sie hatte kein Recht, die Menschen ihrer letzten Chance zu berauben.
»Wann gehst du?«, fragte sie mit ausdrucksloser Stimme.
»Jetzt.«
Mit letzter Kraft gelang es ihr, nicht zusammenzubrechen.
Warum war sie eingeschlafen? Warum war sie nicht die ganze Nacht bei ihm geblieben? Warum hatte sie ihn nicht noch einmal geliebt?
»Bleib! Nur einen Tag noch … eine Stunde …«
»Papa kann nicht hierbleiben«, sagte Yelle. »Je weniger Sterne es gibt, umso schwieriger wird es sein, den Blouf zu besiegen …«
Aphykit neigte den Kopf und umarmte ihren Mann, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Sie atmete seinen warmen Duft ein.
»Habe ich dir jemals gesagt, dass ich dich liebe?«
»Sag es mir noch einmal.«
»Ich liebe dich.«
Sanft löste er sich von ihr.
»Wir sehen uns bald wieder. Eines darfst du nie vergessen: Ich gehöre dir, bis in alle Ewigkeit. Pass gut auf unser kleines Wunder auf.«
Dann nahm er seine Tochter in die Arme. Lange. Er küsste sie.
»Wenn dich der Blouf frisst, Papa, musst du an mich denken. Dann spuckt er dich wieder aus. Er hat mehr Angst vor mir als ich vor ihm.«
Tixu lächelte Yelle an, verstrubbelte ihr das Haar und
machte sich auf den Weg ins Hochgebirge, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Er wird mir fehlen«, sagte Yelle.
»Er fehlt mir bereits«, murmelte Aphykit.
»Wir bekommen bald Besuch von neuen Pilgern. Wenn der Blouf sie nicht vorher verschlungen hat …«
Beide weinten lange. Bis Yelle, ohne gegessen zu haben, aus dem Haus ging. Doch sie begab sich nicht zum Strauch des Narren, sondern mit einem der Wanderstäbe ihres Vaters auf den Weg ins Gebirge. Weil sie etwas von ihm besaß, hatte sie das Gefühl, dem Blouf nicht völlig ausgeliefert zu sein.
Es war so warm, dass sie sich auszog und in einem eiskalten Gebirgsbach badete. Eine Weile ließ sie sich von der Strömung dahintreiben, dann klammerte sie sich an den Ast einer Trauerweide und kletterte an der gegenüberliegenden Böschung hoch, streckte sich auf einem Felsen aus und
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