Terra Mater
immer weniger Licht …«
Erst durch das plötzliche Verschwinden ihrer Tochter wurde den beiden bewusst, welchen Platz das Kind in ihrem Leben einnahm und welche Leere sie hinterließ. Jetzt merkten sie, dass sie einen Fehler gemacht hatten, sich ganz und gar auf die Suche nach Shari zu machen und Yelle darüber zu vergessen.
Schon seit drei Tagen und Nächten schliefen sie nicht mehr, durchstreiften das Gebirge im Regen, ein Gebirge, das plötzlich feindlich und gefährlich geworden war. Sie tappten durch Matsch und Schlamm, sahen in Grotten und Höhlen nach. Und weil sie wussten, dass ihre Suche kaum erfolgreich sein konnte, suchten sie umso verbissener weiter, wohl auch, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen und nicht untätig im Dorf herumsitzen zu müssen. Das Dorf verfiel jetzt, da die meisten Bewohner es wegen des strengen Winters verlassen hatten.
»Yelle!«
Seit dem Weggang der letzten Pilger hatte sich die Lage nicht verbessert. Shari hatte sich nicht gemeldet, und das Antra hatte ihnen auch keinen neuen Weg eröffnet. Alles schien stillzustehen. Wie Yelle gesagt hatte, verschloss sich das Universum, wurde kleiner … als würde es vom Blouf aufgesogen.
Der Blouf … Vielleicht war der Blouf für das Verschwinden ihrer Tochter verantwortlich.
»Yelle!«
Der Blouf, das alles verzehrende Böse, hatte sie vielleicht verschlungen. Yelle allein schien ihn zu erkennen. Und vielleicht hatte er beschlossen, das Kind zu eliminieren.
Aphykits Herz wurde schwer, und Tränen traten ihr in die Augen, mischten sich mit den Regentropfen, die ihr übers Gesicht liefen. Warum hatten sie Yelles Worten so wenig Beachtung geschenkt? Sie hatten wie alle Eltern reagiert und ihren Reden kaum zugehört, weil sie wie alle Erwachsenen den Kindern gegenüber arrogant waren. Aber der Name Blouf war nicht nur ein kindlicher Ausdruck, ein von Yelle erfundenes Monster, sondern eine entsetzliche Realität, ebenso fürchterlich wie Hyponeros. Und das hatte sie versucht, ihnen begreiflich zu machen, als sie sich nachts von Albträumen geplagt in ihr Bett flüchtete.
»Yelle!«
Warum hatten sie sie nicht beschützt und mit Liebe und Zärtlichkeit überhäuft? Warum hatten sie ihr nicht gesagt, dass sie sie lieben?
Mit einem Stock stocherte Tixu im Unterholz, schreckte manchmal kleine furchtsame Tiere auf, die die Flucht ergriffen. Manchmal glaubte er, hinter Ästen das goldene Haar seiner Tochter aufleuchten zu sehen, und sein Herz fing voller Hoffnung heftig zu klopfen an. Aber dann sprang doch nur eine Berggazelle auf und floh in wilden Sprüngen.
Die beiden gelangten auf ein großes Hochplateau, auf der einen Seite von einer hohen Felswand begrenzt, und auf der anderen von einem von spitzen Pfeilern umgebenen Rund. Das Tageslicht schwand schnell. Unzählige kleine reißende Bäche schlängelten sich zum Abgrund hin, wo sich Pfützen in den Vertiefungen gebildet hatten. Der
Wind wurde immer heftiger, drohte, zum Sturm zu werden.
Tixu hielt sich am Ast einer Zwergtanne fest. »Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen!«, schrie er, um das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens zu übertönen. Sein nasses Haupt- und Barthaar wand sich wie die Schlangen einer Gorgone um seinen Kopf.
»Kommt nicht infrage!«, schrie Aphykit zurück.
Sie kauerte am Fuß eines mächtigen Felsbrockens. Ihr goldenes Haar umwehte ihren Kopf wie eine Flamme. Ihre völlig durchnässte Wolljacke wog schwer. Wasser rann unter ihrer Tunika und ihrer Hose über ihren Körper.
»Wir müssen weitersuchen, einfach weitersuchen!«
»Warten wir doch, bis sich der Sturm gelegt hat.«
Aphykit nickte erschöpft. Tixu hatte Recht. Es würde sie nicht weiterbringen, noch länger in diesem Wetter auszuharren.
»Warte hier auf mich«, sagte Tixu und tastete sich vorsichtig an der Felswand auf der Suche nach einer Einbuchtung entlang. Windböen warfen ihn gegen das scharfkantige Gestein, und er musste sich mit aller Kraft an den spitzen Vorsprüngen festkrallen, um nicht wie ein Blatt im Wind davongewirbelt zu werden. Fünfzig Meter weiter fand er einen schmalen Spalt, presste sich hindurch und stand in einer nach innen größer werdenden Höhle. Im schwindenden Licht konnte er gerade noch in einer Ecke ein Strohlager, gefaltete Decken, einen niedrigen Tisch und ein paar Kochutensilien erkennen.
Tixu ging zurück und holte Aphykit. Sie riss sich die Wange an einem Felsvorsprung auf, und über ihren Köpfen tobte jetzt ein heftiges Gewitter, mit
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