Terror
meisten Kranken und Verwundeten den Geist aufgaben, um in das wahrhaft unbekannte Land zu entschwinden.
Crozier kroch unter die Decken und vergrub das Gesicht in der eiskalten Rosshaarmatratze. Es würde fünfzehn Minuten dauern, bis es in der Koje ein wenig warm wurde. Mit Glück schlief er schon vorher ein. Mit Glück konnte er einen zweistündigen Trinkerschlaf genießen, bevor der nächste Tag voller Finsternis und Kälte begann. Mit Glück, ging ihm beim Eindösen durch den Kopf, wachte er überhaupt nicht mehr auf.
17
Irving
70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
13. NOVEMBER 1847
S ilence war verschwunden, und es war die Aufgabe des Dritten Leutnants John Irving, sie zu suchen.
Der Kapitän hatte ihm keinen Befehl dazu erteilt, zumindest nicht ausdrücklich. Aber als vor fünf Monaten beschlossen wurde, die Eskimofrau auf die HMS Terror zu nehmen, hatte der Kapitän Irving angewiesen, auf sie aufzupassen. Da Kapitän Crozier diesen Befehl nie aufgehoben hatte, fühlte sich Irving seither verantwortlich für Silence. Außerdem hatte sich der junge Mann in sie verliebt. Er wusste, dass es töricht – sogar verrückt – war, sich in eine Wilde zu verlieben, eine Frau, die eine ungebildete Eingeborene und nicht einmal Christin war, die kein Wort Englisch und mit ihrer herausgerissenen Zunge auch sonst keine menschliche Sprache sprach. Trotzdem war Irving in sie verliebt. Irgendetwas an ihr bewirkte, dass der großgewachsene, kräftige John Irving weiche Knie bekam.
Und jetzt war sie verschwunden.
Dass sie sich nicht in der ihr zugewiesenen kleinen Schlafhöhle in dem vollgestellten Teil der Vorpiek vor dem Schiffslazarett aufhielt, war zum ersten Mal vor zwei Tagen aufgefallen, am Donnerstag, doch die Männer hatten sich daran gewöhnt, dass
Lady Silence kam und ging. Sie war genauso häufig draußen wie an Bord, selbst nachts. Am Donnerstagnachmittag hatte Irving Kapitän Crozier gemeldet, dass Silence verschwunden war, aber der Kapitän und andere hatten sie zwei Nächte zuvor auf dem Eis gesehen. Dann, nachdem die Überreste von Strong und Evans gefunden worden waren, wurde sie wieder vermisst. Keine Sorge, meinte der Kapitän, sie werde schon wieder auftauchen.
Aber sie war nicht aufgetaucht.
Am Donnerstagmorgen war ein Sturm mit schwerem Schnee und starkem Wind heraufgezogen. Am Nachmittag hatten die Arbeitstrupps, die bei Lampenlicht die Wegmale zwischen der Terror und der Erebus reparierten – vier Fuß hohe Säulen aus Eisziegeln alle dreißig Schritte –, zu den Schiffen zurückkehren müssen und seither die Arbeit nicht wiederaufnehmen können. Der letzte Bote von der Erebus , der am Donnerstagabend eingetroffen war und wegen des Sturms auf der Terror hatte bleiben müssen, hatte erklärt, dass sich Silence auch nicht auf Commander Fitzjames’ Schiff befand. Seit Samstagmorgen wurden die Wachen alle zwei Glasen abgelöst, und trotzdem kamen die Männer starrend vor Eis und schlotternd vor Kälte ins Unterdeck. Alle drei Stunden wurden Arbeitstrupps mitten im Sturm hinauf zu den Aufbauten geschickt, um mit Äxten das Eis von den Spieren und Leinen zu hacken, damit das Schiff nicht durch das Gewicht kenterte. Zudem waren die herabstürzenden Eisbrocken eine stete Gefahr für die Wachposten und beschädigten auch das Deck. Andere Männer waren damit beschäftigt, den Schnee von den vereisten Planken der nach vorn krängenden Terror zu schaufeln, ehe er sich so hoch auftürmte, dass die Luken nicht mehr geöffnet werden konnten.
Als Leutnant Irving dem Kapitän am Samstag nach dem Abendessen erneut berichtete, dass Silence nicht zu finden war, erwiderte Crozier: »Wenn sie bei diesem Wetter draußen ist,
kommt sie vielleicht nicht mehr wieder, John. Aber ich erteile Ihnen die Erlaubnis, später, wenn die meisten Männer in ihren Hängematten liegen, das ganze Schiff zu durchsuchen, und sei es auch nur, um sicherzugehen, dass sie nicht da ist.«
Nachdem er an diesem Tag bereits Dienst als wachhabender Offizier gehabt hatte, kleidete sich der Leutnant nun also wieder in seine Kaltwetterplünnen und stieg erneut den Niedergang zum Deck hinauf.
Die Wetterverhältnisse hatten sich nicht gebessert. Wenn überhaupt, dann war es draußen noch schlimmer als vor fünf Stunden, als Irving zum Abendessen unter Deck gegangen war. Der Nordwestwind blies dichten Schnee vor sich her, so dass man keine zehn Fuß weit sehen konnte. Über allem lag eine Eisschicht, obwohl vor
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