Terror
dass man sich hier hätte länger aufhalten können. Selbst die ledergebundenen Bücher auf ihren Regalen machten einen frostigen Eindruck. Das Holzinstrument, das metallene Musikplatten
abspielte, wenn man es aufzog, stand schweigend auf seinem Platz. Irving bemerkte, dass hinter Kapitän Croziers Trennwand noch Licht brannte. Dann ging der Leutnant vorbei an den leeren Messen zurück zum Niedergang.
Im Orlopdeck war es wie immer äußerst kalt und sehr dunkel. Seit die Ärzte immer mehr verdorbene Konservenbüchsen entdeckt hatten, war der Proviant streng rationiert worden. Diesem Umstand und den schrumpfenden, ebenfalls rationierten Kohlevorräten war es zu verdanken, dass die Seeleute seltener hier herunterkamen, um Nahrungsmittel oder Kohlensäcke zu holen. Irving war ganz allein in diesem eisigen Verlies. Um ihn herum ächzten die Holzbalken und frostschimmernden Metallkrampen, während er sich einen Weg nach vorn und dann nach achtern bahnte. Die dichte Finsternis schien das Laternenlicht förmlich zu verschlingen; Irving konnte den schwachen Schimmer durch den beim Atmen erzeugten Nebel aus Eiskristallen kaum sehen.
Keine Spur von Lady Silence im Bereich des Bugs – weder im Zimmermanns- noch im Bootsmannshellegat, und auch nicht in der fast leeren Brotkammer hinter den verriegelten Verschlägen. Der mittlere Teil des Orlops war bei der Abreise vom Boden bis zur Decke mit Vorratskisten, -fässern und -tonnen beladen gewesen, doch inzwischen war das Deck zum großen Teil leer. Auch mittschiffs war Lady Silence nicht zu finden.
Mit Kapitän Croziers Schlüssel sperrte Leutnant Irving die Spirituslast auf. Im Schein der Laterne waren noch genügend Weinbrand- und Weinflaschen zu erkennen, aber ihm war bekannt, dass der Rumpegel in dem riesigen Hauptfass nicht mehr besonders hoch stand. Wenn der Rum ausging und die Männer mittags nicht mehr ihren Grog bekamen, dann rückte die Bedrohung durch eine Meuterei in greifbare Nähe – das wusste Leutnant Irving genauso gut wie jeder andere Offizier der Royal Navy. Mr. Helpman, der Proviantmeister, und
Mr. Goddard, der Lastmann, hatten erst jüngst berichtet, dass die Rumbestände nur noch für ungefähr ein halbes Jahr reichten, und das auch nur, wenn die übliche, mit drei Viertelpinten Wasser vermischte Viertelpinte Rum schon bald um die Hälfte verringert wurde. Auch darüber würden die Männer sicher murren.
Selbst wenn die Männer immer über ihre hexenhaften Fähigkeiten tuschelten, hielt es Irving für völlig ausgeschlossen, dass sich Lady Silence in der Spirituslast verbarg. Trotzdem spähte er unter Tische und Theken und suchte den Raum gründlich ab. In den Regalen über ihm schimmerten kalt die vielen Reihen von Entermessern, Bajonetten und Flinten.
Er wandte sich achteraus zur Pulverkammer, in der noch genügend Vorräte an Kugeln und Schwarzpulver lagerten, und warf einen kurzen Blick in den Vorratsraum des Kapitäns, wo auf den Borden nur noch einige wenige Flaschen Whiskey standen, da die Lebensmittel in den letzten Wochen an die Offiziere verteilt worden waren. Dann durchsuchte er die Segelkoje, die Schlappkiste und die achterlichen Werkzeugverschläge.
Wäre Leutnant John Irving eine Eskimofrau gewesen, die sich an Bord eines Schiffs verstecken will, hätte er sich vielleicht für die Segelkoje mit ihren vielen noch unberührten Haufen und Rollen von Leinwand und Tüchern und dem Gewirr von Kabeln entschieden.
Aber auch dort war sie nicht. In der Schlappkiste schrak Irving zusammen, als der Strahl seiner Laterne auf eine große, stumme Gestalt im hinteren Teil des Raumes fiel, deren Schultern breit vor dem dunklen Schott aufragten, doch es waren nur mehrere wollene Überröcke und eine Welsh Wig an einem Haken.
Nachdem er alle Verschläge verriegelt hatte, stieg der Leutnant den Niedergang zur Last hinab.
Trotz seiner knabenhaften blonden Locken und der schnell errötenden Wangen, die ihn jünger aussehen ließen, als er war, hatte sich der Dritte Leutnant John Irving nicht deshalb in das
Eskimomädchen verliebt, weil er eine liebeshungrige Jungfrau war. Im Gegenteil, Irving hatte mehr Erfahrung mit dem zarten Geschlecht als viele Maulhelden an Bord, die auf der Back mit ihren erotischen Eroberungen prahlten. Irvings Onkel hatte den Jungen an seinem vierzehnten Geburtstag mit zum Bristoler Hafen genommen, ihn einer sauberen und freundlichen Hure namens Mol vorgestellt und für dieses Erlebnis bezahlt: nicht nur eine schnelle Nummer im
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