Tesarenland (German Edition)
gegeben. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir die Chance gehabt hätten, wirklich zu kämpfen. Jetzt wird jeder Versuch, sich gegen sie zu erheben empfindlich bestraft.
Marco hat erzählt, in einer Kolonie, in der die Erwachsenen einen Aufstand angezettelt haben, haben sie zur Strafe alle Kinder hingerichtet. In einer anderen hat man eine Bestie freigelassen, die innerhalb weniger Stunden alles und jeden niedergetrampelt und getötet hat. Die Angst dieser armen Menschen muss unermesslich gewesen sein, eingesperrt, kein Ausweg, keine Möglichkeit sich zu verstecken.
Luca folgt irgendwelchen Schildern, die mal in die, mal in die Richtung zeigen. Manchmal sind sie so verrostet, dass man die Buchstaben nicht mehr erkennen kann. Bei den meisten kann man wenigstens ein bis zwei erahnen, aber das scheint Luca zu reichen. Nur die, deren Rohre, an denen sie angebracht sind, durchgerostet sind, oder die, die gar nicht mehr da sind, machen Luca Probleme. Dann laufen wir erst einige Minuten in die eine Richtung, dann in die andere oder wir finden ein neues Schild, das uns dann den Weg weist.
Irgendwann scheinen wir unser Ziel erreicht zu haben, denn Luca bleibt vor einem großen Gebäude mit beindruckender Eingangspforte stehen. Die Tür, die sich einst unter dem steinernen Bogen befunden haben muss, fehlt. Das Haus sieht verlassen aus, es ist ganz rußig und schwarz. Es muss gebrannt haben. Sämtliche Fenster sind zerstört. Luca flucht leise.
»Was ist ?«, frage ich beunruhigt.
»Das war die Polizeistation. Sie haben sie niedergebrannt. Wahrscheinlich gibt es in anderen Teilen der Stadt noch welche, aber dazu müssten wir quer durch die Tesarenstadt laufen. Das ist zu gefährlich mit einem kranken Kind.«
»Lass uns doch erst mal reingehen und nachsehen«, sage ich. Die Vorstellung mit Kayla stundenlang durch die Stadt zu irren, macht mir panische Angst.
»Vielleicht bleiben wir einfach in dem Keller, bis alles vorbei ist und Kayla wieder gesund ist«, schlage ich vor. Diese Sache war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Mir kommen große Zweifel, ob diese Flucht eine gute Idee war. Kayla einer solchen Tortur auszusetzen, war egoistisch von mir. Es war egoistisch von mir, sie mit Gewalt am Leben halten zu wollen. Aber wenn sie nur den Funken einer Chance hat …
Luca geht ein paar der Stufen hoch, die zu der großen Pforte führen, und dreht sich zu mir um. »Was glaubst du, wie lange wir uns da verstecken können, bis sie uns gefunden haben? Ich weiß nicht, was sie bisher aufgehalten hat, aber sie werden uns folgen, weil sie es können. Überleg mal, warum die Leibsklaven nicht versuchen, zu fliehen. Sie könnten es«, sagt er und wird immer lauter. »Es gibt keinen Zaun, nur die Bestien, da draußen im Wald.«
Ich zucke mit den Schultern. Darüber habe ich bisher nicht nachgedacht, weil ich immer angenommen ha be, dass es auch um die Städte herum einen Zaun gibt. Luca hat gestern erklärt, dass es keinen gibt, nie einen gegeben hat, weil die Tesare so große Energiefelder nicht erzeugen können, dass sie eine ganze Stadt von dieser Größe umschließen. Vielleicht, hat er gemeint, sperren sie sich selbst aber auch nicht gerne ein.
»Sie haben Angst«, sagt er und die Wut in seiner Stimme macht mich nervös. »Die Tesare jagen sie. Sie jagen sie, wie Tiere, weil es ihnen Spaß macht. Gut möglich, dass sie uns nur einen Vorsprung geben, damit der Reiz größer ist.« In seiner Stimme klirrt der Hass auf unsere Besatzer. Wir alle hassen sie, aber Lucas verzerrter Gesichtsausdruck schockiert mich. Was haben sie ihm angetan?
Ich schlucke und reibe mir über die Arme. Luca hat recht, gestehe ich mir ein. Ich weiß es. Entschlossen stapfe ich an Luca vorbei in das Gebäude. Ich habe zwar keine Ahnung, wie so ein Funkgerät aussieht, aber ich werde eins finden, irgendwo. Und dann werde ich es Luca mit einem selbstsicheren Grinsen überreichen. Nicht, weil ich stolz bin, eines gefunden zu haben, sondern weil ich will, dass er aufhört, mich wie ein dummes Kind ständig zu belehren und anzuschreien. Schließlich mache ich mir auch nur Sorgen um meine Schwester. Ich schicke ein Gebet zu Mutter, sie soll mir helfen.
Leider muss ich mir selber eingestehen, dass ich mir neben Luca wirklich dumm vorkomme. Er weiß so vieles, und ich weiß gar nichts. In unserer kleinen abgeschotteten Welt von Kolonie D, was habe ich da schon wissen müssen? Bisher war Lesen nichts, was mir das Überleben hatte sichern
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