Tessy 02: Tessy und die Lust des Mörders
einen Fehler gemacht, wiederholte Honey ein ums andere Mal wie ein Mantra. So einfach war das und so tragisch. Sie goss sich ein zweites Glas Wein ein und zog wie eine Ertrinkende an ihrer Zigarette. Ihre Hände zitterten, obwohl sie schon vor einer Stunde in die Wärme ihrer Wohnung geflüchtet war und die Heizung mit zärtlichem Bollern auf Hochtouren lief.
Es gab gar keinen Zweifel: Die abgebildete Frau in der Zeitung war Lilly. Es war ihr Gesicht, das ihr voller Entsetzen entgegenstarrte. Man hatte sie aus Papenfuhlbecken gezogen. Nackt. Tief gefroren. In dem Zeitungsbericht war von einem brutalen Sexualdelikt die Rede. Wer die Frau kannte, solle sich bitte melden. Honey kräuselte die Lippen. Na, wenn ihr wüsstet, was die mit uns gemacht haben. Aus Spaß. Aus einer seltsamen Geilheit und Gier heraus. Wenn Schmerz, Lust und Angst sich miteinander verbinden, kann es gefährlich werden. Man sollte sich an den Deal halten, lautete die schlichte und weise Überlebensregel.
Honey trank einen Schluck Wein. Ihre Hände zitterten. Vielleicht hatte der Grünäugige einfach nur sicher gehen wollen. Vielleicht war sie, Honey, die nächste, die in irgendeinem Tümpel oder wo auch immer verschwinden musste. Andererseits hatten sie Lilly schon vor über zwei Wochen erledigt – wäre es nicht naheliegend gewesen, mit ihr zur gleichen Zeit Schluss zu machen? Oder war alles doch ganz anders gewesen? Vielleicht gab es gar keinen Zusammenhang. Haha. Vielleicht gab es den Weihnachtsmann und die gute Fee, bei der man drei Wünsche frei hatte.
Und wie sollte es jetzt weitergehen? Ganz einfach: Ich weiß von nichts, dachte Honey. Das hat bis jetzt funktioniert, warum sollte es nicht weiterhin funktionieren? Klappe halten, weitermachen wie bisher und Ende.
Was würde ich mir wünschen, wenn ich drei Wünsche frei hätte? Honey lächelte plötzlich. Gerechtigkeit für Lilly. Nie wieder auf den Strich gehen müssen. Sechs Monate Urlaub auf einer sonnigen Insel oder besser noch: sechs Jahre. Warum auch nicht? Eine Fee konnte das managen. Das war der doch egal, ob nun sechs Monate oder sechs Jahre.
Sie wusste nicht, warum, aber plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen, und ihr Herz wurde schwer, als hätte es von einem Augenblick zum anderen tausend Tonnen geladen. Gerechtigkeit für Lilly. Das wäre doch mal was. Es klang großartig – märchenhaft schön. Melodramatisch und feengleich. Unwirklich. Lilly war zart wie eine Fee gewesen. Honeys Hände zitterten immer noch, sogar stärker als zuvor, aber sie folgte einem seltsam drängenden Impuls, stand auf und griff zum Telefon, obwohl sie ahnte, dass sie diese Entscheidung bereuen könnte.
„Gerechtigkeit für Lilly“, flüsterte sie, als eine junge Polizeibeamtin sich in sachlich munterem Tonfall gemeldet hatte. „Man hat sie fertiggemacht und ins Papenfuhlbecken geworfen. Das könnt ihr mir glauben. Guckt euch in einem alten Fabrikgebäude in der Nähe der Gedenkstätte Hohenschönhausen um. Und guckt euch dort ganz genau um.“ Dann legte sie auf, ohne die drängenden Nachfragen der Polizistin zu beachten.
In Krimis hieß es immer, man konnte erst feststellen, woher der Anruf kam, wenn die Verbindung lange genug bestand. Honey hoffte, dass sie schnell genug wieder aufgelegt hatte. Sie zitterte am ganzen Körper. Aber sie lächelte. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade getan hatte. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben mutig gewesen, dachte sie. Irgendwann ist immer das erste Mal.
Als sie am nächsten Vormittag aufwachte, gönnte sie sich ein heißes Schaumbad, und sie frühstückte Croissants mit Himbeermarmelade und Nutella. Den Kaffee servierte sie sich mit geschäumter Milch und Kakaostreuseln. Was für ein Festtagsschmaus. Im Fernsehen lief eine Doku-Soap. Es war immer noch sehr kalt.
Honey beschloss, sich einen Tag freizunehmen, um das Gefühl auszukosten, für einen Funken Gerechtigkeit gesorgt zu haben. Oder es zumindest versucht zu haben.
Hauptkommissarin Carola Stein las die Telefonnotiz, noch im Stehen, ein zweites Mal. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und spitzte die Lippen. Die anonyme Anruferin habe schnell und leise, aber gut verständlich gesprochen, doch auf Nachfragen nicht reagiert, hatte die diensthabende Polizistin ihrer Notiz hinzugefügt. Man habe den Anruf nicht zurückverfolgen können. Er sei aber auf Festplatte gespeichert.
„Gerechtigkeit für Lilly“, las Carola Stein halblaut.
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